Es muss November gewesen sein, als wir diesen Termin für eine Tour ausgekungelt haben. Aber auch, wenn wir uns erst eine Woche vorher verabredet hätten: Anfang April ist einfach kein Datum, an dem man mit verlässlich akzeptablen Bedingungen rechnen kann. Wenn ich an das letzte Jahr denke, als um diese Zeit noch Schnee lag und die Temperaturen darnieder - bei solchen Bedingungen hätte wohl keiner von uns ein Wochenende im Schlafsack auf der Hallig verbracht. Doch die im Vorfeld bang beobachtete Wettervorhersage nimmt uns allen Wind aus den Segeln: Am Freitag tagsüber noch fünf bis sechs Beaufort, aber ab 17:00 Uhr abflauend und außerdem eh aus Osten. An den folgenden Tagen dann nur noch schwachwindig aus westlicher Richtung. Das verspricht doch eine gemütliche Unternehmung zu werden mit Rückenwind auf Hin- wie Herweg. Und am Sonnabend soll durchgängig die Sonne scheinen! Welch Glückes Geschick!
Allein - in Schlüttsiel am Anleger stehend müssen wir uns eingestehen, dass der Wind nicht wirklich nachlassen will und die Messwerte der Windgeschwindigkeiten sich herzlich wenig um die Vorhersage scheren! Sie liegen im Mittel deutlich über zehn Meter pro Sekunde und damit im Sechser-Bereich. Die Böen liegen über 14 m/s, was ganz unromatische sieben Beaufort sind. Die Sicht ist nicht berauschend und es sind Schauer angesagt. Ist es klug, bei sechs Grad Wassertemperatur, sechs Beaufort und Wetterbedingungen, die auch eher die Schulnote sechs verdienen, mit klitzekleinen Booten über die Nordsee zu schippern? "Klug" ist vielleicht nicht ganz die richtige Frage. Aber die richtige Frage möchten wir dann doch lieber nicht stellen.
Trenk ist prall geladen mit dem Wunsch, sein neues Boot auszuprobieren und eine der für ihn immer schwieriger zu arrangierenden Fahrten mit uns auch durchzuführen. Fast nimmt er uns die Luft, zu einer unbeeinflussten Überzeugung zu gelangen. Jörg ist prinzipiell sogar bereit, die ganze Unternehmung abzublasen, und ich suche noch nach einem Kompromiss zwischen meinen Befürchtungen und Wünschen. Ich fürchte am meisten, dass uns der eiskalte Wind zusammen mit dem eiskalten Wasser so arg zusetzen könnte, dass wir den grimmigen Wellen nicht genug Elastizität entgegen zu setzen hätten und dies ein zu hohes Risiko darstellen würde. Schließlich einigen wir uns darauf, nicht in den Hooger Hafen sondern nach Hilligenlei zu fahren. Das ist zwar weitaus weniger attraktiv, weil es dort kein Seglerheim gibt mit Duschen, Toiletten und trockenem Aufenthaltsraum, aber wir müssten so nicht über offenes Wasser fahren, und die Sandbank, die südlich des Langeness-Fahrwassers liegt, würde uns vor großen Wellen schützen.
Trenk fährt heute zum ersten Mal einen nagelneuen "Romany" von Nigel Dennis. Ein Kursboot, von dem er wissen möchte, wie es sich unter ernsthaften Bedingungen verhält. Da das Schott hier natürlich nicht auf seine Beinlänge angepasst ist, fährt er viel leeren Raum im Cockpit spazieren und hat einige Mühe, alles Gepäck unterzubringen. Auch Jörg hat Mühe, alles zu verstauen, so dass ein paar Dinge wieder in meinem Kahn landen, der innen eben besonders hohl ist: obwohl ich als einziger einen Bootswagen mitführe, habe ich sogar noch nennenswert ungenutzten Raum. Allen gemeinsam ist uns, dass wir diesmal keinen Wasservorrat mitführen. Wozu auch, auf Hilligenlei gibt es die Rixwaft mit Toilettengebäude und auf Hooge das Seglerheim mit Duschen, Toiletten und trockenem Aufenthaltsraum.
Wir sind bereits um kurz nach sechs auf dem Wasser, lediglich ein paar Minuten nach Hochwasser. Sonnenuntergang ist etwa um 20:00 Uhr - alles passt also bestens. Wir haben uns kräftig eingepummelt, zu groß ist unser Respekt vor den Bedingungen. Jörg hat eine Fliesmütze und darüber noch seine Neoprenhaube auf dem Kopf. Ich habe meine Neo-Haube nur als Halskrause übergestülpt, aber über der Fliesmütze die neue knallrote Kapuze, die der Weihnachtsmann mir als Trost für das Debakel von Lyö beschert hat. Trenk's Kapuze ist im Trockenanzug integriert.
Ich mache gleich anfangs die Ankündigung, dass ich ein gemütliches Tempo fahren werde. Ich will von Beginn an eine ehrgeizige Wettfahrt verhindern, denn wir werden unsere Kraft besonders am Ende der Fahrt benötigen. Doch der Strom wird schon dafür sorgen, dass wir trotzdem mit gutem Tempo voran kommen werden. Die Sicht ist nicht berauschend aber immerhin gut genug, dass man die jeweils unmittelbar nächste Tonne knapp erkennen kann. Trotzdem der Wind immer noch rauscht, sind die Wellen überraschend klein und zahm. Bis zur Tonne, an der wir uns entscheiden müssen, ob wir in die Süderaue nach Hooge oder das Langenessfahrwasser nach Hilligenlei fahren wollen, haben wir uns mit den Umständen vollkommen ausgesöhnt. Wir kommen kurz zur Absprache zusammen und es herrscht ungetrübte Einigkeit, dass wir keine Bedenken haben, die Fahrt nach Hooge zu meistern.
"Das Glück ist mit den Tüchtigen" - wir müssen wohl zu diesen Menschen zählen, denn der Wind nimmt sich augenscheinlich etwas zurück, während wir die große Wasserfläche queren. Immer noch sind die Wellen für die herrschende Windstärke überraschend klein. Bliese es aus der entgegengesetzten Richtung und stünde der Wind damit gegen den Strom, würde hier das reine Chaos herrschen. Erst als die Süderaue kurz vor Hooge zwischen die zu Tage tretenden Sandbänke gepresst wird, stärkerer Regen einsetzt der Wind wieder auffrischt, fangen die Wellen an zu rauschen. Bis hierhin waren wir mit durchschnittlich 8,6 km/h unterwegs - die nächste viertel Stunde rauschen wir mit gemittelten 11,2 km/h durch die immer dunkler werdende Nordsee! Trenk ist eins mit seinem Boot und juchzt irgendwo in der Ferne. Jörg und ich legen es bewusst nicht darauf an, die Boote ins Surfen zu bekommen, sondern fahren gesittet näher unter Land. Um zwanzig nach Acht passieren wir die Hafeneinfahrt von Hooge - nur wenig mehr als zwei Stunden, nachdem wir in Schlüttsiel von der Rampe gerutscht sind.
Eine erste Begutachtung des vollkommen leeren Zeltplatzes bringt uns zu der wenig überraschenden Erkenntnis, dass es hier mit dem Windschutz nicht zum Besten bestellt ist. Nun sind vor dem Wind schützende Erhebungen der Erdkruste auf Halligen vergleichsweise selten anzutreffen. Einzig der Erdhaufen, in den das Seglerheim seine Stelzen steckt, könnte als solche dienen. Um in den Genuss dessen zu gelangen, müssten unsere drei Boote aber noch die hundert Meter über den Steg bewältigen, der den schlickgefüllten Hafen quert. Natürlich habe ich als professioneller Paddler meinen geländegängigen Bootswagen dabei - und zwei plötzlich emsig Süßholz raspelnde Kameraden, die auch gerne dessen Dienste in Anspruch genommen hätten. Zwar habe ich dämlicher Weise keinen Spanngurt zur Befestigung dabei, aber als professioneller Paddler bin ich bis an die Zehen mit den unterschiedlichsten Schnüren bewaffnet, so dass dieser Lapsus uns vor keine ernst zu nehmenden Probleme stellt.
Etwas anders sieht es mit örtlichen Infrastruktur aus: aus uns unerfindlichen Gründen hat das Seglerheim die Saison noch nicht eröffnet. Zwar ist der Segelhafen pappenleer, aber das ist doch noch lange kein Grund, auch die Wasserhähne abzustellen! Nichts mit Duschen, Toiletten und trockenem Aufenthaltsraum! Damit haben wir beim besten Willen nicht gerechnet. Trenk und ich machen uns auf, zur Peselwarft zu stapfen und dort um etwas Wasser zu betteln. Es ist dunkel, es regnet immer noch und wärmer ist es auch nicht geworden. Also machen wir uns in voller Montur auf die Neoprensocken: Trockenanzug, Schwimmweste, Kapuze und sogar die Spritzdecke lassen wir, wo sie sind. Die Bedienung im Friesenpesel guckt wie ein Auto, als wir ihr unseren Wunsch vorbringen. "Wo kommt ihr denn her?", fragt sie ebenso entgeistert wie sie unsere ehrliche Antwort "Aus Schlüttsiel." ungläubig und kopfschüttelnd quittiert.
Der große Wassersack von Jörg ist ziemlich schwer, so dass wir ihn den langen Weg zurück zu zweit schleppen müssen. Zumindest sollten wir nun für drei Tage genug Wasser gebunkert haben. Das Umsetzen der Boote, der Gang zum Brunnen, das Zelte-Aufbauen im Dunkeln und bei immer noch recht heftigem Wind, das Umziehen und Ausladen der Sachen sowie Nach-Hause-Telefonieren haben ihre Zeit gebraucht. Als ich mir endlich meine Bratkartoffeln auf dem Trangia brutzele, ist es bereits nach zehn Uhr. Einen heißen Orangensaft noch, um die letzte Kälte aus den Gliedern zu vertreiben und dann mummele ich mich gemütlich in meinen Schlafsack.
Wenn ich jemals Zweifel an der Dichtigkeit meines Zeltes gehabt haben sollte, diese Nacht hat sie weggeschwemmt! Stundenlang pladdert heftiger Regen auf unsere Hütten und der Wind rüttelt an den Planen. Das war der ultimative und beruhigende Test! Der große Wassersack von Jörg hat seinen Test übrigens nicht bestanden: er hat das gesamte, mühselig vom anderen Ende der Insel herbeigeschleppte Wasser durch ein Leck verloren!
Für heute stand kurzzeitig ein Ausflug zur Pallas auf dem Programm. Aber zum einen ist die Sicht noch schlechter als gestern, so dass schon die keine 300 Meter entfernt stehende Kirchwarft nur noch schemenhaft zu erkennen ist, und zum anderen würde das eine Tour weit über der Vierzig-Kilometer-Marke bedeuten, für die wir uns noch nicht fit genug fühlen. Und was sollen wir zehn Kilometer auf dem offenen Meer bei einem Kilometer Sicht, nur um so einen imaginären Punkt im trüben Nichts zu suchen? Stattdessen wollen wir um Japp- und Norderoogsand fahren, das wird schon interessant und lang genug. Bevor wir allerdings die Spritzdecken über unsere muckeligen Cockpits schließen können, müssen wir noch aus unseren trockenen Sachen in die über Nacht natürlich nicht getrocknete dafür aber eiskalte Paddelmontur schlüpfen. Das ist der Moment, bei dem auch bei dem hartgesottensten Kanuten Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns aufkommen...
Wir wollen nach Möglichkeit ohne GPS auskommen, um unseren Weg zu finden. Aber das ist hier
draußen schon bei optimalen Sichtverhältnissen nicht ganz einfach, denn Tonnen gibt es nicht, und die Sände sehen über ihre gesamte Länge vollkommen einförmig aus. Einzig der alte Kirchtum von Pellworm böte navigatorischen Halt und Orientierung in dieser nassen Wüstenei. Bei der trüben Sicht heute ist der aber nicht zu sehen, so dass man raten müsste und stochern. So schielen wir dann doch mit zunehmender Nähe zum Rummelloch immer öfter auf unsere kleinen elektronischen Helfer. Es dient eigentlich nicht so sehr zur Orientierung als vielmehr zur Bestätigung, dass wir uns auch tatsächlich dort befinden, wo wir uns vermuten. Es beruhigt ungemein, wenn man das Ziel mit Gewissheit noch vor sich weiß. Nebel erzeugt nämlich eine ungeheure Reibung auf dem Zeitstrahl und die Minuten brauchen mehr als doppelt so lange zum Zergehen. Da bekommt man schnell das Gefühl, das Ziel müsste längst erreicht sein. Und ohne die Versicherung durch das GPS ist man leicht versucht, zu früh abzubiegen, aufzulaufen, zu raten, ob man schon zu weit oder noch nicht weit genug ist, sich für die falsche Option zu entscheiden, zurückzufahren, festzustellen, dass man doch noch nicht weit genug war, wieder zurückzufahren und das Spielchen von neuem zu beginnen. Auch spannend, aber eher etwas für wärmere Tage.
Wir lassen uns an einer Robbenherde vorbei treiben. Die hat natürlich wieder genau dort Stellung bezogen, wo wir eigentlich Pause machen wollten. Es sind gut zwei Dutzend Tiere - darunter mindestens vier Kegelrobben. Einige - vorrangig die jungen Tiere - robben ins Wasser und schwimmen auf uns zu. Die Knopfaugen sind erstens ungemein kurzsichtig und zweitens ebenso neugierig. Wir verstehen gut, dass sie dankbar sind, mal etwas Abwechslung geboten zu bekommen. Ihr restliches Leben besteht ja nur aus ödem Verfolgen von Fischen und Dösen auf der Sandbank.
Die Pause ist nicht wirklich gemütlich, weil uns schnell kalt wird, denn die Sonne ist nicht einmal mit gutem Willen zu erahnen. Den Rückweg beginnen wir ausgesprochen gemütlich, die Paddel werden nur hin und wieder zur Richtungskorrektur genutzt. Ständig umschwimmen und beäugen uns die Seehunde. Als Trenk einen Blick auf sein GPS wirft, beträgt unsere Geschwindigkeit zwölf Stundenkilometer! Nicht schlecht für ohne Anstrengung! Man bekommt eine beklemmende Ahnung, warum das Rummelloch Rummelloch heißt und dass die Einfahrt bei Nebel oder hohen Winden in Zeiten, die noch keine elektronischen Helferlein kannten, einem Selbstmordversuch gleich kam.
Es ist für uns keine große Herausforderung, zu unserem Ausgangspunkt zurück zu finden. Aber die schlechte Sicht lässt doch einige interessante Zweifel aufkommen. Als sich die Schutzhütte von Norderoog schemenhaft zu erkennen gibt, kann man sie nur mittels Kompass und Blick auf die Karte als solche einordnen. Und ich sehe im Nebel ja immer irgendwelche Wälder am nicht vorhandenen Horizont. So auch diesmal wieder. Ich kann irgendwann sogar mit Bestimmtheit - ja Gewissheit - sagen, dass es sich um einen dichten Buchenwald handelt. Aber ich behalte diese Gewissheit für mich, denn ich bin mir sicher, dass die anderen mir nicht glauben würden, dass auf Hooge während unserer Abwesenheit ein dichter Buchenwald entstanden ist. So entpuppt sich dieser Buchenwald dann auch bald als Silhouette der Ockenswarft, die da durch den Dunst schimmert. Bis hierher hat uns der Tidenstrom getragen, nun müssen wir, um nicht aufzulaufen, erst einen etwas größeren Bogen noch Osten machen und uns dann die restlichen zwei Kilometer gegen den vollen Strom der Süderaue zum Segelhafen kämpfen. Am Ende einer Lahnung steht ein junger Seeadler. Ein Dutzend Möven tut lautstark kund, dass sie mit seiner Anwesenheit nicht glücklich sind.
Heute ist das Lammfilet fällig und wir wandern gegen Abend zum Friesenpesel, wo wir erst nach einer Weile als die verwegenen Wasserholer von gestern wiedererkannt werden. Wir bekommen nur einen Tisch zweiter Wahl, denn trotz vermeintlicher Nebensaison gibt es zahlreiche Reservierungen. Der Wetterbericht für morgen könnte günstiger nicht ausfallen: Schwache westliche Winde und ungetrübter Sonnenschein von morgens bis zum späten Nachmittag!
"Über den Wolken..." mag die Sonne wohl scheinen, denken wir, als wir am Sonntag Morgen aus den Zelten kommen - hier unten allerdings herrscht die gleiche Suppe wie gestern! Ein erneuter Blick auf eines dieser phantastischen modernen "Telefone" zeigt uns einen vollkommen anderen Wetterbericht, als der, der uns gestern Abend verkauft wurde: den ganzen Tag grau und ab Mittag Regen! Wir machen erst einmal einen ausgiebigen Spaziergang über die Insel. Es herrscht rege Betriebsamkeit, denn die gesamte Bevölkerung strömt zur Kirche, wo heute die diesjährige Konfirmandin von Hooge vorgestellt wird. Nächsten Sonntag ist dann die Konfirmation. Der Toilettenwagen am Pelwormer Anleger ist übrigens schon in Position - und hat fließend Wasser! Vielleicht hätten wir hier campieren sollen. Außer von uns wird die Hallig momentan von 40 Waldorfschülern und -schülerinnen heimgesucht, die wie jedes Jahr die Insel neu vermessen. Zehn Tage verbringen die Jugendlichen hier. Ach ja, und dann sind da noch die etwa 40 Tausend Ringelgänse und -gänsinnen, die sich hier einen runden Bauch anfressen für ihre anstehende Reise nach Sibirien.
Der einzige Dienst, den uns das Seglerheim bietet, ist ein guter Windschutz, in dem wir uns umziehen können. Wir lassen unsere Boote so früh wie das auflaufende Wasser und die elendige Molenkante es gefahrlos zulassen in den Priel. Der Weg ist klar - auch bei trüber Sicht: Immer dem Fahrwasser folgend bis nach Schlüttsiel. Wir halten uns an den Tonnenstrich, um nicht unnötig den Fähren ins Gehege zu kommen, die uns vermutlich schlecht sehen und auf jeden Fall gar nicht mit uns rechnen werden. Zu unserer Überraschung ist bei unserer Ankunft im Hafen von Schlüttsiel schon so viel Wasser aufgelaufen, dass wir sogar an der südlichen breiten Rampe aussteigen können. Die erste ernsthafte und größere Tour des Jahres ist gemeistert - ich freue mich auf die weiteren!