Allein - in Schlüttsiel am Anleger stehend müssen wir uns eingestehen, dass der Wind nicht wirklich nachlassen will und die Messwerte der Windgeschwindigkeiten sich herzlich wenig um die Vorhersage scheren! Sie liegen im Mittel deutlich über zehn Meter pro Sekunde und damit im Sechser-Bereich. Die Böen liegen über 14 m/s, was ganz unromatische sieben Beaufort sind. Die Sicht ist nicht berauschend und es sind Schauer angesagt. Ist es klug, bei sechs Grad Wassertemperatur, sechs Beaufort und Wetterbedingungen, die auch eher die Schulnote sechs verdienen, mit klitzekleinen Booten über die Nordsee zu schippern? "Klug" ist vielleicht nicht ganz die richtige Frage. Aber die richtige Frage möchten wir dann doch lieber nicht stellen.
Trenk ist prall geladen mit dem Wunsch, sein neues Boot auszuprobieren und eine der für ihn immer schwieriger zu arrangierenden Fahrten mit uns auch durchzuführen. Fast nimmt er uns die Luft, zu einer unbeeinflussten Überzeugung zu gelangen. Jörg ist prinzipiell sogar bereit, die ganze Unternehmung abzublasen, und ich suche noch nach einem Kompromiss zwischen meinen Befürchtungen und Wünschen. Ich fürchte am meisten, dass uns der eiskalte Wind zusammen mit dem eiskalten Wasser so arg zusetzen könnte, dass wir den grimmigen Wellen nicht genug Elastizität entgegen zu setzen hätten und dies ein zu hohes Risiko darstellen würde. Schließlich einigen wir uns darauf, nicht in den Hooger Hafen sondern nach Hilligenlei zu fahren. Das ist zwar weitaus weniger attraktiv, weil es dort kein Seglerheim gibt mit Duschen, Toiletten und trockenem Aufenthaltsraum, aber wir müssten so nicht über offenes Wasser fahren, und die Sandbank, die südlich des Langeness-Fahrwassers liegt, würde uns vor großen Wellen schützen.
Trenk fährt heute zum ersten Mal einen nagelneuen "Romany" von Nigel Dennis. Ein Kursboot, von dem er wissen möchte, wie es sich unter ernsthaften Bedingungen verhält. Da das Schott hier natürlich nicht auf seine Beinlänge angepasst ist, fährt er viel leeren Raum im Cockpit spazieren und hat einige Mühe, alles Gepäck unterzubringen. Auch Jörg hat Mühe, alles zu verstauen, so dass ein paar Dinge wieder in meinem Kahn landen, der innen eben besonders hohl ist: obwohl ich als einziger einen Bootswagen mitführe, habe ich sogar noch nennenswert ungenutzten Raum. Allen gemeinsam ist uns, dass wir diesmal keinen Wasservorrat mitführen. Wozu auch, auf Hilligenlei gibt es die Rixwaft mit Toilettengebäude und auf Hooge das Seglerheim mit Duschen, Toiletten und trockenem Aufenthaltsraum.
Wir sind bereits um kurz nach sechs auf dem Wasser, lediglich ein paar Minuten nach Hochwasser. Sonnenuntergang ist etwa um 20:00 Uhr - alles passt also bestens. Wir haben uns kräftig eingepummelt, zu groß ist unser Respekt vor den Bedingungen. Jörg hat eine Fliesmütze und darüber noch seine Neoprenhaube auf dem Kopf. Ich habe meine Neo-Haube nur als Halskrause übergestülpt, aber über der Fliesmütze die neue knallrote Kapuze, die der Weihnachtsmann mir als Trost für das Debakel von Lyö beschert hat. Trenk's Kapuze ist im Trockenanzug integriert.
Ich mache gleich anfangs die Ankündigung, dass ich ein gemütliches Tempo fahren werde. Ich will von Beginn an eine ehrgeizige Wettfahrt verhindern, denn wir werden unsere Kraft besonders am Ende der Fahrt benötigen. Doch der Strom wird schon dafür sorgen, dass wir trotzdem mit gutem Tempo voran kommen werden. Die Sicht ist nicht berauschend aber immerhin gut genug, dass man die jeweils unmittelbar nächste Tonne knapp erkennen kann. Trotzdem der Wind immer noch rauscht, sind die Wellen überraschend klein und zahm. Bis zur Tonne, an der wir uns entscheiden müssen, ob wir in die Süderaue nach Hooge oder das Langenessfahrwasser nach Hilligenlei fahren wollen, haben wir uns mit den Umständen vollkommen ausgesöhnt. Wir kommen kurz zur Absprache zusammen und es herrscht ungetrübte Einigkeit, dass wir keine Bedenken haben, die Fahrt nach Hooge zu meistern.

Eine erste Begutachtung des vollkommen leeren Zeltplatzes bringt uns zu der wenig überraschenden Erkenntnis, dass es hier mit dem Windschutz nicht zum Besten bestellt ist. Nun sind vor dem Wind schützende Erhebungen der Erdkruste auf Halligen vergleichsweise selten anzutreffen. Einzig der Erdhaufen, in den das Seglerheim seine Stelzen steckt, könnte als solche dienen. Um in den Genuss dessen zu gelangen, müssten unsere drei Boote aber noch die hundert Meter über den Steg bewältigen, der den schlickgefüllten Hafen quert. Natürlich habe ich als professioneller Paddler meinen geländegängigen Bootswagen dabei - und zwei plötzlich emsig Süßholz raspelnde Kameraden, die auch gerne dessen Dienste in Anspruch genommen hätten. Zwar habe ich dämlicher Weise keinen Spanngurt zur Befestigung dabei, aber als professioneller Paddler bin ich bis an die Zehen mit den unterschiedlichsten Schnüren bewaffnet, so dass dieser Lapsus uns vor keine ernst zu nehmenden Probleme stellt.
Der große Wassersack von Jörg ist ziemlich schwer, so dass wir ihn den langen Weg zurück zu zweit schleppen müssen. Zumindest sollten wir nun für drei Tage genug Wasser gebunkert haben. Das Umsetzen der Boote, der Gang zum Brunnen, das Zelte-Aufbauen im Dunkeln und bei immer noch recht heftigem Wind, das Umziehen und Ausladen der Sachen sowie Nach-Hause-Telefonieren haben ihre Zeit gebraucht. Als ich mir endlich meine Bratkartoffeln auf dem Trangia brutzele, ist es bereits nach zehn Uhr. Einen heißen Orangensaft noch, um die letzte Kälte aus den Gliedern zu vertreiben und dann mummele ich mich gemütlich in meinen Schlafsack.
Wenn ich jemals Zweifel an der Dichtigkeit meines Zeltes gehabt haben sollte, diese Nacht hat sie weggeschwemmt! Stundenlang pladdert heftiger Regen auf unsere Hütten und der Wind rüttelt an den Planen. Das war der ultimative und beruhigende Test! Der große Wassersack von Jörg hat seinen Test übrigens nicht bestanden: er hat das gesamte, mühselig vom anderen Ende der Insel herbeigeschleppte Wasser durch ein Leck verloren!
Für heute stand kurzzeitig ein Ausflug zur Pallas auf dem Programm. Aber zum einen ist die Sicht noch schlechter als gestern, so dass schon die keine 300 Meter entfernt stehende Kirchwarft nur noch schemenhaft zu erkennen ist, und zum anderen würde das eine Tour weit über der Vierzig-Kilometer-Marke bedeuten, für die wir uns noch nicht fit genug fühlen. Und was sollen wir zehn Kilometer auf dem offenen Meer bei einem Kilometer Sicht, nur um so einen imaginären Punkt im trüben Nichts zu suchen? Stattdessen wollen wir um Japp- und Norderoogsand fahren, das wird schon interessant und lang genug. Bevor wir allerdings die Spritzdecken über unsere muckeligen Cockpits schließen können, müssen wir noch aus unseren trockenen Sachen in die über Nacht natürlich nicht getrocknete dafür aber eiskalte Paddelmontur schlüpfen. Das ist der Moment, bei dem auch bei dem hartgesottensten Kanuten Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns aufkommen...
Wir wollen nach Möglichkeit ohne GPS auskommen, um unseren Weg zu finden. Aber das ist hier
Wir lassen uns an einer Robbenherde vorbei treiben. Die hat natürlich wieder genau dort Stellung bezogen, wo wir eigentlich Pause machen wollten. Es sind gut zwei Dutzend Tiere - darunter mindestens vier Kegelrobben. Einige - vorrangig die jungen Tiere - robben ins Wasser und schwimmen auf uns zu. Die Knopfaugen sind erstens ungemein kurzsichtig und zweitens ebenso neugierig. Wir verstehen gut, dass sie dankbar sind, mal etwas Abwechslung geboten zu bekommen. Ihr restliches Leben besteht ja nur aus ödem Verfolgen von Fischen und Dösen auf der Sandbank.
Heute ist das Lammfilet fällig und wir wandern gegen Abend zum Friesenpesel, wo wir erst nach einer Weile als die verwegenen Wasserholer von gestern wiedererkannt werden. Wir bekommen nur einen Tisch zweiter Wahl, denn trotz vermeintlicher Nebensaison gibt es zahlreiche Reservierungen. Der Wetterbericht für morgen könnte günstiger nicht ausfallen: Schwache westliche Winde und ungetrübter Sonnenschein von morgens bis zum späten Nachmittag!
Der einzige Dienst, den uns das Seglerheim bietet, ist ein guter Windschutz, in dem wir uns umziehen können. Wir lassen unsere Boote so früh wie das auflaufende Wasser und die elendige Molenkante es gefahrlos zulassen in den Priel. Der Weg ist klar - auch bei trüber Sicht: Immer dem Fahrwasser folgend bis nach Schlüttsiel. Wir halten uns an den Tonnenstrich, um nicht unnötig den Fähren ins Gehege zu kommen, die uns vermutlich schlecht sehen und auf jeden Fall gar nicht mit uns rechnen werden. Zu unserer Überraschung ist bei unserer Ankunft im Hafen von Schlüttsiel schon so viel Wasser aufgelaufen, dass wir sogar an der südlichen breiten Rampe aussteigen können. Die erste ernsthafte und größere Tour des Jahres ist gemeistert - ich freue mich auf die weiteren!