Sonntag, 21. August 2016

Endlich Pallas!

Statt meine traditionelle Tour "Nordsee für Neulinge" anzubieten, habe ich mich dieses Jahr entschieden, einfach "privat" zur Seekajakwoche (SKW) der Salzwasser-Union (SaU) nach Hooge zu fahren und zur Mitfahrt einzuladen. Die Resonanz war erwartungsgemäß verhalten. Mein Plan war, mich einfach irgendeiner reizvollen Tour anzuschließen und in die gemütliche Lage des Konsumenten zu begeben. Leider stand da nur eine aus meiner Sicht eher reizarme Tour nach Amrum auf dem Programm, die so gar keine Anziehung auf mich ausübte. Zudem standen die Tidenzeiten günstig, so dass eine Tour zur Pallas in einem äußerst bequemen Rahmen möglich sein sollte. Also entschloss ich mich, im Vorfeld bei den Organisatoren ein solches Unternehmen anzuregen und nach einem "bescheinigten" Fahrtenleiter zu fragen, der dem ganzen einen Sau-mäßigen Anstrich und Segen geben könnte. Das war leider nicht möglich und ich solle bedenken, dass gerade eine Fahrt zur Pallas ein sehr gewagtes Unternehmen darstelle. Um die SaU nicht weiter zu kompromittieren, entschied ich mich, das Ganze nicht weiter publik zu machen. Ich war mir sicher, dass die Hansels (genauer drei Hansels und eine Gretel), die sich bei mir zur Mitfahrt angemeldet hatten, keine eigenen Pläne schmieden sondern sich mir frohgemut anschließen würden.

Es gab noch einige Irritationen bei der Organisation der Hinfahrt, weil Hanno seinen Wagen verliehen hatte, der Joker Nopa dann doch lieber in der Dänischen Südsee plantschen wollte und Stan schließlich doch nicht extra von der Nordsee zurück nach Kiel kommen wollte, um gleich wieder zur Nordsee zu fahren. Am Ende bin ich also nur mit Johanna und Steffen gemütlich von Kiel nach Schlüttsiel gefahren, wo wir mit Stan und Olli - äh - Hanno zusammentrafen.

Ich hätte hier eigentlich noch mehr Paddler erwartet, die auch das Wochenende zur SKW fahren würden. Aber wir bleiben allein an der Rampe, die noch gut mit Wasser bedeckt ist. Es ist 16 Uhr und damit nur eine Stunde nach Hochwasser, so früh war ich noch nie hier! Das Packen geht zügig, und als wir unsere beladenen Boote näher zum Wasser tragen wollen, ist die Kaimauerkante immer noch tief unter brauner Flüssigkeit versteckt. Hanno tastet sich mit dem Boot am langen Arm durch das trübe Nass und fragt, wo denn die Kante genau verlaufe. Ich trage zusammen mit Johanna ihr Boot nach vorne und sage: "Die Kante verläuft direkt vor den Pollern. Wenn Johanna gleich verschwindet, dann war da die Kante!" Plupp! macht es, und Johanna verschwindet bis zum Hals in der Nordsee!

Da wir so früh sind, das Wetter so fantastisch ist und wir alle Zeit der Welt haben, gebe ich die Devise aus,  östlich um Gröde herum zu fahren. Ein kleiner Umweg zwar, aber wir sind ja nicht hier, um Hooge auf dem schnellstmöglichen Weg zu erreichen. Außer strahlendem Sonnenschein, spiegelglattem Wasser, auf dem große Placken Wattwurmkacke wabern, und aus dem hin und wieder ein Seehundskopf auftaucht, gibt es wenig zu vermelden.

Wir kommen noch bei Sonnenschein am Hooger Segelhafen an, wo die Zeltwiese rappelvoll belegt ist. Es laufen auch allerhand SäUe in der Gegend herum, doch nur der alte Recke Manfred B. fühlt sich berufen, uns beim Anlanden und Boote-Hochschleppen zu unterstützen. Da auch die Flächen um das Stelzenheim komplett und dicht belegt sind, müssen wir zunächst einmal ein paar Kajaks umbetten, um überhaupt Platz für unsere Stoffhütten zu finden. Es tobt gerade das Tauziehen und Matthias, bei dem ich mich angemeldet hatte, kann ich im Wuhling nicht so schnell finden, um unsere Ankunft kund zu tun. Da die Veranstaltungswoche schon im Ausklingen begriffen ist, und man das mit der Bürokratie nicht mehr so eng sieht, drücke ich einfach dem Vorsitzenden Gero unser Übernachtungsgeld in die Hand und betrachte die Angelegenheit damit als erledigt.

Zum Abschluss des Tages setzen wir uns auf die warmen Steine am Deich und genießen gemeinsam unser Abendbrot. Hanno und Stan wollen morgen schon wieder zurück fahren, die beiden anderen wollen es wagen, mit mir den Versuch zu unternehmen, die Pallas zu erreichen. Es soll den gesamten Tag kräftig mit um die neun Meter pro Sekunde aus südlichen Richtungen pusten. Das könnte spannend werden. Als Abfahrtzeit habe ich sieben Uhr ausgegeben. Das ist zwar ziemlich früh, schreckt aber keinen der beiden endgültig ab,

Ich tratsche noch bis spät in die Nacht mit dem Matthias, den ich immer treffe, wenn ich auf der Nordsee unterwegs bin und kann auch danach noch nicht gleich Schlaf finden, weil im großen Mannschaftszelt die Abschlussparty tobt - "Smoke on the water..."

Um 5:20 Uhr blicke ich auf die Uhr und befinde, dass es nicht lohnt, weiter zu schlafen. Stattdessen schaffe ich mein gesamtes Frühstücksgerödel über den Steg auf die andere Seite des Hafenbeckens und mache mir in aller Ruhe einen Tee und mein Müsli. Um sechs Uhr checke ich, ob die beiden anderen sich noch an ihr Vorhaben vom vergangenen Tag erinnern. Das Erinnern gestaltet sich etwas mühsam, aber es funktioniert. So sitzen wir tatsächlich um viertel nach sieben in unseren Booten, der Himmel griesgrämig grau bewölkt, die Temperaturen ähnlich niedrig wie unsere Spritzigkeit und der Wind hält, was die Vorhersage gestern versprochen hat.

Bis zur Nordspitze von Jappsand bekommt man die Strecke noch geschenkt, danach muss man sie sich erarbeiten. Es geht zwar eine ordentliche Strömung in Richtung unseres Ziels aber es weht auch ein heftiger Wind gegenan. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es unter den gegebenen Bedingungen tatsächlich bis zum Wrack schaffen werden. Die Peilung nach meiner selbstgebastelten Seekarte beträgt 250 Grad, die Entfernung 14 Kilometer. Um 10 Uhr müssen wir unser Ziel erreicht haben, denn dann kippt dort die Strömung. Für den Hinweg haben wir also etwa zwei Stunden Zeit. Ich gebe 240 Grad als zu steuernden Kurs aus. Damit landen wir etwas zu weit südlich und haben noch eine bessere Chance, unser Ziel zu erreichen, auch wenn wir zu langsam sind und der Strom schon wieder nach Norden drückt.

Bei sehr guter Sicht könnte man die Pallas schon vom Jappsand aus sehen, aber wir haben keine gute Sicht. Es ist trüb und hin und wieder nieselt es. Es dauert eine gute Stunde und damit die Hälfte des Weges, bis ich die Silhouette im fernen Dunst erkenne. Die beiden anderen müssen mir das glauben, weil sie keinen Schimmer haben, was es zu erwarten gibt. Ich bin rechtschaffen überrascht, dass wir unser Ziel direkt vor unserer Nase sehen. Ich hätte mit einem deutlicheren Versatz gerechnet. Die See ist trotz des recht heftigen Windes eigentlich erstaunlich ruhig - allerdings sehr unregelmäßig. Auf manchen Strecken ist die Wellenhöhe unter einem halben Meter, dann folgen immer wieder Phasen, wo sie sich bis auf zwei Meter aufsteilen und teilweise brechen. Alle halbe Stunde schalte ich mein GPS an und überprüfe unser Vorankommen. Waren wir anfangs noch recht flott, verlieren wir mit nachlassender Strömung immer mehr an Schwung. Letztlich bin ich mir erst fünf Kilometer vor dem Ziel wirklich sicher, dass alles passt, wie geplant. Am Ende wird eine Punktlandung draus: Um 10 Minuten vor zehn sehen wir die Wellen aus nächster Nähe wütend gegen den rostigen Stahl des einstigen Holzfrachter klatschen. Eine ganze Schar Seevögel nutzt diesen Punkt im nassen Nichts als Treffpunkt. Uns hält es nicht wirklich hier und wir drehen bei.

Die neue Kursangabe lautet mit Seekajak gemäßer Genauigkeit: "Eher 90 als 60 Grad". Bei der Geschwindigkeit hatte ich eher daran gedacht, dass wir uns gemütlich von Wind und Strom nach Hause tragen lassen würden, Aber da habe ich die Rechnung ohne Johanna gemacht. Die hat nämlich keine Paddeljacke an (Anfängerin!), und daher ist ihr kalt. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als doch etwas Druck zu machen und viel zu früh im Hooger Hafen anzukommen. Damit es nicht allzu arg wird, machen wir doch noch eine Pause auf dem Jappsand, wo ich meinen neuen Notfallshelter ausprobieren kann. Da die Sonne mittlerweile schon wieder schüchtern durch die dünner werdenden Wolken lugt, ist es muckelig warm in der Bude, obwohl draußen immer noch ein scharfer Wind pustet. Aber zu dritt ist es doch etwas arg beengt.

Der Tag ist noch nicht einmal halb rum, als wir von Hanno und Stan, die sich gerade auf den Nachhauseweg gemacht haben, an der Mole begrüßt werden. Es ist auch schon genug Wasser da, so dass das Aussteigen recht komfortabel möglich ist. Während wir durch die grimmige Nordsee gepflügt sind, haben etliche Teilnehmer bereits ihre Zelte abgebrochen und die Heimreise mit der Fähre oder auf eigenem Kiel angetreten. Die Belegung der Wiese hat sich entsprechend entspannt. Da genau mit unserer Ankunft auch eine grundlegende Wetterbesserung einsetzt, haben wir einen kompletten Urlaubstag im Sonnenschein gewonnen. Zum Glück haben wir bereits gestern Abend einen Tisch für drei Personen im Friesenpesel reservieren lassen, so dass wir uns jetzt ganz der Entspannung widmen können. Ich nutze sie unter anderem, um mich mit bekannten Gesichtern zu unterhalten und neue kennen zu lernen.

Als sich am späten Nachmittag am fernen Horizont deutliche Gewitterneigung entwickelt, gehen wir etwas früher als geplant zur Peselwarft, um noch vor Einsetzen des Regens dort anzukommen. Die Sache mit der Reservierung war eine ausgesprochen pfiffige Idee, denn als kurz nach uns Olaf und Björn nach einem Platz suchen, ist kein Tisch mehr frei, Wir bitten sie kurzerhand an unseren in der Annahme, dass sie im Gegenzug das Begleichen der Rechnung übernehmen werden. Es entspinnen sich angeregte Gespräche, bei denen unter anderem jeder ausführen muss, wie er (oder sie) denn zum Paddeln gefunden hat. Besonders der "Paddeltest", mit dem Olav die Beziehungstauglichkeit neuer Bekanntschaften ergründet, stößt bei Johanna auf ungebremste Begeisterung. Irgendwie hat das mit der Übernahme der Rechnung dann doch nicht geklappt, aber wir haben unsere Adressen ausgetauscht.

Angeblich soll es während unseres Pesel-Aufenthaltes geregnet haben, wie Johanna steif und fest behauptet, was aber niemand sonst bestätigen kann. Jedenfalls kommen wir auch wieder trocken zum Segelhafen zurück. Irgendjemand muss mit einer Gießkanne große Mengen Wasser über mein Zelt gekippt haben.

Am Sonntag ist das Hochwasser in Schlüttsiel erst um 16:50 Uhr. Das bedeutet nochmal einen guten Vormittag ohne Vorhaben, ohne Pflichten - und bei gutem Wetter. Wir lassen alles sehr mit Bedacht angehen, denn vor 12 Uhr besteht wegen fehlenden Wassers gar keine Möglichkeit, Hooge zu verlassen. Ich werde von Paddlern anderer Gruppen mehrmals gefragt, wann wir denn losfahren wollen. Dass ich nie eine Uhrzeit nenne, sondern nur "Sobald genug Wasser da ist!", wird so richtig wohl nur von Willi aus Mainz verstanden. Er ist Seekajak-Neuling, hat aber profunde Kenntnisse und Erfahrungen im Wildwasser. Auch er kann die nervöse Thermik, die sich frühzeitig auf der Zeltwiese entfaltet, nicht recht verstehen. Einige tragen schon Stunden vor einer möglichen Abfahrt ihre leeren Boote aufs Watt und beladen sie dort. Möglicherweise spart das zehn Minuten gegenüber einem Start von der Rampe - um den Preis einer Schlickpackung für Boot und Paddler.

Auch dieser Vormittag beschert mir wieder bereichernde Gespräche mit bisher fremden und altbekannten Paddlern. Sogar Eckehard taucht auf und erzählt mir seine Sicht der Welt. Eigentlich würde ich gerne auch mal eine Seekajak-Woche von Anfang bis Ende mitmachen. Vielleicht habe ich irgendwann einmal die Zeit dafür.

Zu meiner Überraschung ist um zwölf Uhr tatsächlich schon so viel Wasser aufgelaufen, dass wir ziemlich problemlos einsetzen können. Der Wind weht wie gestern mit fünf Windstärken auf südsüdsüdwestlicher Richtung. Anfangs fahre ich noch neben Erich S. und deutlich langsamer, als Johanna möchte. Kurz nach der Abbiegung an Tonne SA22 lasse ich das ungeduldig drängende Hündchen von der Leine und gebe ihr vor: "Immer links von den roten Tonnen halten!" - und weg ist sie! Eine zeitlang habe ich noch die Chance, mit ihr mithalten zu können, muss dann aber einsehen, dass sie mit ihrem Boot in diesen Bedingungen einfach schneller ist. Als sie irgendwann die etwa eine dreiviertel Stunde vor uns aus dem Watt gestartete Gruppe überholt, hat sie wegen der vielen Paddler um sie herum kurz die Orientierung verloren. Unbekümmert, wie es nur Johanna kann, fragt sie einen der Überholten: "Wo ist denn hier die nächste rote Tonne?" Vermutlich hat der Gefragte sie für ein paddelndes Irrlicht gehalten.

In Schlüttsiel hat das Wasser gerade die Kante erreicht, über die sich Johanna vor zwei Tagen in die Nordsee gestürzt hat. Mit Strom und Wind im Rücken haben wir die knappen 20 Kilometer in deutlich weniger als zwei Stunden zurückgelegt. Wir gönnen uns einen Kakao (mit Sahne) und Kuchen  (mit Sahne) und freuen uns, nach vier Jahren vergeblicher Anläufe, endlich erfolgreich die Pallas erreicht zu haben - bei Bedingungen, die deutlich rauer waren als bei all den Versuchen zuvor.
Alle Bilder hier.