Samstag, 29. Februar 2020

Schweinebach für Fortgeschrittene

Es ist viel Wasser die Hagener Au herunter geflossen, seit dem ich sie das letzte Mal gepaddelt bin. Aber ich erinnere mich, dass es damals ein großer Spaß war. Zwar bin ich damals einmal so gut wie gekentert, aber in der Zwischenzeit habe ich ja viel Erfahrung gesammelt und bin technisch wesentlich versierter, so dass mir das heute nicht mehr passieren sollte. Also hatten Jörg und ich verabredet, am Wochenende eine Schweinebachtour zu unternehmen - vorzugsweise am Sonnabend, weil für den Sonntag mal wieder stürmischer Wind angekündigt war, und da ist man besser nicht im Wald.

Ein Aufruf über die Mailingliste brachte kein donnerndes Echo, nur Maditha meldete sich. Sie hatte zwar keine Vorstellung, was die Unternehmung bedeuten würde, aber "dreckig machen" hört sich gut an, sagte sie, und das genügte ihr. Zum Glück meldete sich am Freitag auch Bernhard noch, und damit war das Problem, dass wir ein zweites Auto benötigen würden, gelöst. Geeignete Boote hatten wir genug, meines lagert seit etwa zwei Jahren hinterm Haus. Bislang habe ich es immer nur verliehen, und es war dringend Zeit, dass ich selbst mal eine Tour damit unternehme. Für die beiden anderen hatte Jörg welche aus seinem Fundus anzubieten, allerdings zog Bernhard es dann nach der Anprobe in der Bootshalle doch vor, sich aus einer anderen Quelle zu bedienen.

Es ist ja mittlerweile recht lange hell und so setzten wir die Startzeit auf humane 11 Uhr. Jörg holt mich bei mir Zuhause ab und als wir schon startklar sind, gehe ich noch mal kurz ins Haus zurück. Um 16 Uhr will jemand kommen, um endlich Merles Paletten vom Hof zu holen, und ich hänge einen Zettel an die Tür - für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich nicht rechtzeitig zurück sein sollte.

Die Frage der Bekleidung wird individuell unterschiedlich beantwortet. Bernhard und Maditha laufen im Neo auf, Jörg und ich im Trockenanzug. Schwimmweste legen nur Bernhard und ich an, aber eigentlich eher aus Gewohnheit als aus Überzeugung der Notwendigkeit. Ich fahre als einziger mit Helm.

Das Einsetzen als "seal launch" ist für Madith und Bernhard eine neue Erfahrung und sehr nach ihrem Geschmack. Zum Glück lässt der Bach es langsam angehen und fordert uns erst mit kleinen Challenges. Aber schon hier zeigt sich: Mützen sind ein Problem! Immer greifen die Äste und vor allem die Brombeer-Ranken nach ihnen, so dass Maditha und Jörg ihre flauschigen Kopfbedeckungen meist mit den Zähnen gesichert im Mund spazieren fahren und später ganz verstauen.

Aber nicht nur Mützen machen Probleme. Auch Schwimmwesten sind in solcherart Revieren nicht ausschließlich segensbringend. Sie erhöhen schlicht den Körperumfang und damit das lichte Maß, das man benötigt, um unter querliegenden Bäumen hindurch schlüpfen zu können. Dasselbe Manko gilt für meinen Helm, der auch nicht freiwillig unter den Barrieren hindurch will. Aber ohne Kopfbedeckung zu fahren hat leider auch seine Tücken, wie Maditha feststellen muss, nachdem sich eine Brombeer-Ranke in ihrem wallenden Haupthaar verfangen hat.

Trotzdem sind die ersten Hinder- und Fährnisse eher dergestalt, dass wir sie als Herausforderung annehmen und Spaß mit ihnen haben. Bernhard macht sogar bald begeistert den Vorschlag, die Befahrung dieses Bächleins als festen Punkt in unser Vereinsfahrtenprogramm aufzunehmen.

Natürlich stehen auch wieder jede Menge Umtrage-Challenges an. Glücklicherweise finden wir an allen derartigen Stellen gute Möglichkeiten, aus dem Boot und an "Land" zu kommen. "Land" steht hier stellvertretend für ein Feststoff-Wasser-Gemisch, bei dem der Wassergehalt nicht zum Paddeln reicht und man zu Fuß nicht tiefer als knietief einsinkt.

Mit zunehmender Dauer wird die Strömung immer stärker. Man kann an Hindernissen nicht mehr in aller Ruhe probieren, wie man sie am besten überwindet. An den im Limbo-Stil zu passierenden Querliegern muss man das Boot schon in die richtige Richtung - flussab - kanten, damit die Strömung es einem nicht ungewollt umkippt und unter das Hindernis drückt. Bernhard nutzt diesen Effekt an einer Stelle besonders elegant: er fährt gerade auf den Baumstamm hinzu, bleibt erwartungsgemäß mit dem Oberkörper davor hängen und beginnt, sich nach hinten zu lehnen. Dadurch gerät sein schlankes Heck (das des Bootes) leicht unter Wasser und wird sofort von der Strömung nach unten gedrückt. Dadurch kommt er insgesamt so tief, dass er als erster überhaupt unter einem Hindernis hindurchgekerzt ist!

Als die Strömung langsam fordernd wird, rät Jörg zum langsamen Manövrieren. Das ist leichter gesagt als getan. Jörg fährt auf eine - vorsichtig formuliert - anspruchsvolle Stelle zu, ich im guten Abstand dahinter. Leider reißt es Jörg im Gestrüpp um und ich schaffe es nicht mehr, ein geeignetes Kehrwasser anzusteuern. Na gut- vielleicht kann ich vor Ort hilfreich sein. Erst sieht es auch so aus, als wenn die Chance bestünde, dass Jörg den Griff an meinem Bug als Halt benutzen könnte. Aber leider befindet sich der Griff ziemlich schnell auf der Unterseite meines Bootes (natürlich ist nicht der Griff auf die Unterseite gewandert, sondern die Oberseite meines Bootes nach unten!). Bei der Aktion ist mir leider auch mein Paddel abhanden gekommen, so dass ich mich auch schon gezwungen sehe auszusteigen. Da ich aber eine sehr tief gründende Abneigung gegen unfreiwillige Ausstiege habe, probiere ich, ohne Paddel zu rollen. Zu meiner großen Verwunderung klappt es auf Anhieb! Leider befällt mich sofort eine tiefgreifende Panik, weil ich kein Paddel mehr zur Verfügung habe und willenlos dem mitleidslos strömenden Bach ausgeliefert bin. Wie wild schaufele ich mit den Händen, um mein seelenruhig vor mir schwimmendes Paddel zu erreichen. Damit fahre ich erleichtert in das nächste Kehrwasser. Unsere zwei Schweinebach-Novizen passieren die "anspruchsvolle Stelle" übrigens ohne Probleme!

Leider bleibt das "ohne Probleme" für unsere beiden neuen nicht lange erhalten. Mit stärker werdender Strömung und zunehmendem Anspruch der Hindernisstellen, werden auch die Kenterungen der beiden häufiger. Alle Tourbeteiligten sind begnadete Roller, aber Rollen unter solchen Gegebenheiten ist eben eine ganz andere Nummer, vor allem weil man relativ schnell sein Paddel verliert. Keiner hat eine Rolle hinbekommen, außer meiner Handrolle, bei der ich das Glück hatte, in relativ freiem Wasser zu treiben und von der ich immer noch nicht weiß, wie ich sie überhaupt geschafft habe.

Irgendwo im nirgendwo sehen wir schon aus der Entfernung eine Brücke, die echte Zweifel daran aufkommen lässt, ob sie genug lichte Höhe lässt, um sie zu unterfahren. Drei von uns gehen schon in gebührendem Abstand ans Ufer, um sie zu umtragen. Jörg fährt aber bis genau vor die Brücke um festzustellen, dass er hier nicht mehr zurück kann und nur mit einem zweiten Boot als Stütze hindurchkommen könnte. Ich folge seinem Ruf und taste mich an ihn heran. Aber es ist sehr heikel, weil die Strömung vor der Brücke natürlich sehr beschleunigt wird und ich nicht riskieren will, dass ich ohne vorher sicheren Kontakt mit Jörg zu haben, ins Dunkle gesaugt werde. Während ich mich an seitlichen Ästen festhaltend zu Jörg vorarbeite, gerät sein rechtes Paddelblatt unter Wasser und die Strömung erfasst es sofort. So wird das eine Paddelblatt unter Wasser gegen den Grund gedrückt und das andere gegen die Unterseite der Brücke. Es wird dermaßen festgepresst, dass ich es schon aufgegeben habe. Aber Jörg bekommt es tatsächlich losgeruckelt. Leider um den Preis, dass die Strömung ihn erfasst und unter die Brücke spült! Die ist so niedrig, dass er sofort kentert, aber zum Glück hoch genug, dass ich noch sehe, wie er sofort aus dem Boot kommt und ins Freie schwimmen kann.

Ich brauche eine ganze Weile, bis ich es schaffe, mich in der starken Strömung aus dem Boot zu wringen und die hier fast senkrecht abfallende Böschung hoch zu beißen. Dann gehe ich erst mal Jörg suchen. Ich hätte ihn unmittelbar hinter der Brücke erwartet, aber da ist nichts zu sehen. Auch der hier recht weit einsehbare Teil des Baches hat keinen Anblick eines gelben Männchens zur Erleichterung im Angebot. Ich muss eine ganze Weile gehen, bis ich ihn am anderen Ufer finde und nach seinem Befinden frage. Alles in Butter - er musste nur seinem Paddel so weit nachkraulen, weil sich das ohne ihn davon gemacht hat. Er ist bestimmt 200 Meter geschwommen, was eine solide Leistung darstellt - was aber fast eine Meisterleistung daraus machte, war der Umstand, dass der Pinkler seines Trockenanzuges offen stand. So haben wir wieder etwas für unsere Veranstaltung "Fehler - und was wir daraus lernen können" im nächsten Jahr zu berichten.

Durch die Auswirkungen dieser kleinen Nachlässigkeit genötigt, drückt Jörg fortan etwas aufs Tempo. Aber Maditha zeigt bereits Anzeichen von Erschöpfung und macht entsprechend langsam. Sie ist insgesamt drei oder viermal gekentert und jedes mal ausgestiegen. Bernhard ist zwei oder dreimal gekentert und beide fragen öfter nach, wie weit es denn noch ist. Wenn man bedenkt, dass wir hier mit einigen der technisch besten Paddlern des Vereins unterwegs sind, dann sollten wir sehr darüber nachdenken, wen wir mitnehmen, wenn wir die Befahrung der Hagener Au in unser Vereinsprogramm aufnehmen wollen!

Den letzten Teil der Strecke fahren wir teilweise über die benachbarten überschwemmten Wiesen, weil man Bach und Wiese eh nicht unterscheiden kann und auf den Wiesen weniger Büsche wachsen. Zum Schluss müssen wir noch einmal unter einer langen Beton-Straßenbrücke hindurch. Die lichte Höhe ist hier leider auch nicht wunschgemäß und eine Passage ist nur möglich, indem sich zwei Paddler jeweils auf das Boot des Nebenmannes legen und so hindurchtreiben.

Als wir in Lutterbek ankommen, ist es 18 Uhr. Für die nicht einmal sieben Kilometer haben wir glatte fünfeinhalb Stunden benötigt. Das sind 1,2 Stundenkilometer - netto, denn wir haben keine Pause gemacht! Pünktlich zu den 20-Uhr-Nachrichten bin ich zu Hause. Die Sache mit 16:00 Uhr habe ich knapp verrissen. Morgen, wenn Marie-Theres nach Hause kommt, muss ich  ihr erklären, warum mein Gesicht so vollkommen zerschrammt ist :-|