Als ich beim Planungstreffen des Vereins im Januar für Oktober eine Tour im Dunkeln über den kleinen Belt angekündigt hatte, war mir schon klar, dass sie vermutlich wegen widriger Bedingungen ins Wasser fallen würde. Zu oft habe ich schon Touren dort angeboten und sie dann wieder absagen müssen, weil die Wetterbedingungen keine sichere Überfahrt und vor allem keine für alle in der Gruppe zumutbare Rückfahrt garantieren konnten. Wenn ich nun noch die Dunkelheit als zusätzliche Komponente hinzunehme, würde das die Wahrscheinlichkeit einer Absage noch einmal deutlich erhöhen.
Nach Schluss der Anmeldungsfrist weist die Teilnehmerliste neun Nasen auf - eine erfreuliche Resonanz für ein doch etwas exotisches Unternehmen. Das war mir eigentlich etwas zu viel, aber zum Glück war auch Betzis Nase darunter, so dass ich eine kompetente Unterstützung hatte, eine so große Gruppe auch im Dunkeln sicher im Blick zu behalten. Auch die Sache mit dem Organisieren der fahrbaren Untersätze ließ sich nach einigem Rumgefrage befriedigend klären. Und die Wettervorhersage schien das Unglaubliche Wirklichkeit werden zu lassen: just am Samstag Abend sollte sich eine absolute Flaute zwischen zwei Tagen mit strammen Winden einstellen! Zwar schwänzelte die Vorhersage noch einige Male hin und her - aber der ins Auge gefasste Samstag blieb von Bedingungen verschont, die mich zu einer Absage der Tour bewogen hätten. Einzig für den Rückweg am Sonntag drohte heftiger Gegenwind. Aber über den habe ich mir keine großen Gedanken gemacht.
Dass es am Samstag schließlich nur noch sechs Teilnehmer sind, entspricht dem normalen Schwund. Ein kurzes Umorganisieren der Fahrzeuge - und schon steht dem Abenteuer nichts mehr im Wege.Eigentlich hatte ich die Abfahrtszeit auf 18 Uhr festgelegt. Sonnenuntergang ist um 18:15 Uhr, so dass wir noch bequem im Hellen packen, uns orientieren und abfahren können und dann bald in die Dunkelheit kommen. Ich habe in den vergangenen Tagen mal bewusst darauf geachtet, wann es denn wirklich dunkel wird - so richtig schwarzdunkel. Danach erschien mir 18 Uhr fast etwas früh. Unsere Zeitplanung war natürlich großzügig ausgelegt, so dass die Gefahr bestand, dass wir vor der Abfahrt eventuell etwas warten müssten. Aber zum Glück beginnen an diesem Wochenende die Herbstferien in einigen Bundesländern, so dass unsere Anfahrt nach Fynshav deutlich länger dauert als geschätzt. Und das Schmücken der Kajaks und Paddler mit Knicklichtern dauert halt auch etwas.
Der Belt liegt spiegelglatt vor uns! Die Sicht ist supergut und vom Strand aus direkt nördlich des Fährhafens sieht man jede Menge anderes Ufer - scheinbar zum Greifen nahe! Aber wo ist Lyö? An der Tatsache, dass fast alle eine Seekarte des Gebietes dabei haben (bis auf mich 🙂), sieht man, dass hier engagierte Paddler unterwegs sind. Aber es macht noch einige Mühe, das Gesehene mit dem auf der Karte Abgebildeten in Deckung zu bringen. Fazit: Lyö kann man von hier aus nicht sehen, weil es hinter dem Hafenschuppen liegt!So ist es dann tatsächlich kurz vor halb sieben, als wir auf dem Wasser schwimmen. Noch bevor wir die Hafenausfahrt erreicht haben, schwimmt uns ein junger Seehund entgegen, der erstaunlich wenig Scheu zeigt. Vermutlich ist es das erste Mal, dass er so komische längliche Enten auf dem Wasser schwimmen sieht. Hinter dem Hafen orientieren wir uns erst einmal und ordnen die sichtbaren Dinge ein. Da ist als markanteste Erscheinung der Leuchtturm von Skjoldnäs am Nordende von Ärö. Ganz schwach im fernen Grau ragt das Ostende von Avernakö knapp über den Horizont. Davor ist das Westende etwas deutlicher zu sehen. Bereits sehr deutlich mit erkennbaren Strukturen schließt sich Lyö an - da wollen wir hin!Seezeichen sind sparsam gesät. Da gibt es den Leuchtturm, dann eine rot blinkende Tonne zwischen Ärö und Lyö - und ein weiß leuchtendes Licht weiter nördlich auf Fünen. Um unser Ziel zu treffen, müssen wir 65 Grad fahren. Anfangs ist es noch recht gut möglich, den Kompass abzulesen, später versuchen wir, uns eher an der schwarzen Silhouette von Lyö zu orientieren, die sich etwas gegen den dunkelgrauen Himmel abhebt. Wir sind komplett alleine auf dem Wasser, und es ist magisch, in die zauberhafte Stille und das Dunkelwerden hinein zu paddeln. Unsere Knicklichter leisten gute Dienste, so dass ich immer schnell überblicke, ob noch alle meine Begleiter in der Nähe sind. Mitten auf dem Belt sehe ich etwas schwarzes im dunklen Wasser - es stellt sich als toter Schwan heraus, der hier auf seinen Recycling-Prozess wartet. Mit zunehmender Dunkelheit trauen sich immer mehr Sterne aus der Deckung. Irgendwann entdecken wir, dass sich in den Wirbeln am Paddel Meeresleuchten zeigt. Ziemlich schüchtern zwar - aber eindeutig Meeresleuchten! Schließlich wölbt sich die Milchstraße erhaben am Himmel über uns. Immer mal wieder huschen Sternschnuppen über den Horizont. Magisch!Da wir unseren Zielpunkt erst im richtig schwarzen Dunkel erreichen würden, habe ich ihn als Wegpunkt in mein GPS eingegeben. Unterwegs checke ich immer mal wieder, ob unsere Ablage vom Idealkurs noch im akzeptablen Rahmen liegt. Dabei kann ich erkennen, dass wir anfangs nach Norden versetzt werden, wenn wir mit dem Paddeln innehalten und später - auf der östlichen Hälfte des Beltes - nach Süden. Wir befinden uns quasi in einem gigantischen Kehrwasser. Als wir nur noch wenige hundert Meter vom Strand entfernt sind, fahre ich nur noch nach GPS - weil ich das Ziel möglichst genau treffen möchte. Ohne dass ich ihn auch nur erkenne, läuft mein Boot irgendwann sanft auf den steinigen Strand. Ich bitte die anderen, noch in den Booten zu bleiben, weil ich kurz überprüfen möchte, wo denn der wirklich optimale Ort zum Anlanden ist. Er liegt zwanzig Meter weiter südlich! So ein GPS-Gerät ist einfach toll!In der nächsten halben Stunde irrlichtern sechs wasserdichte Glühwürmchen scheinbar wirr auf der Wiese herum - bis all ihre Zelte stehen. In der Schutzhütte müssen wir gar nicht viel umräumen, um für uns alle einen Sitzplatz an einem langen Tisch zu organisieren. Noch bevor wir mit dem Abendessen beginnen, kommt Lena mit der Nachricht von draußen herein, dass gerade Nordlichter am Himmel zu sehen seien. Magisch zum Quadrat!Die Nacht ist ruhig - es gibt kaum gefiederte Lärmlinge hier. Aber es ist Wind aufgekommen, und das Meer rauscht. Und es ist frisch geworden. Aber es ist ein wunderschön sonniger Morgen, und die Zelte sind trocken. Frühstücken, packen und Boote fertig machen gehen in aller Gemütlichkeit vonstatten. Leider steht der Wind ziemlich auf den Strand, was das Einsteigen etwas anspruchsvoll macht. Dass wir dabei vielleicht nicht optimal agieren, liegt schlicht an mangelnder Übung. Aber wir bekommen es bruchfrei hin, dass alle ohne allzu viel Wasser im Cockpit loskommen. Ich bin froh, dass ich als letzer und damit alleine ohne Probleme ins Schwimmen komme.Die Wellenhöhe ist sehr schnell sehr beeindruckend! Wir hatten uns beim Briefing für den Komplementärkurs zu 65 Grad (nach Diskussionen) auf 245 Grad geeinigt. Die nächste, gut ablesbare Zahl auf dem Kompass wäre 240 Grad. Das ist aber deutlich zu wenig als Vorhaltewinkel bei den herrschenden Bedingungen. Also gebe ich 210 Grad als zu steuernden Kurs vor. An Land hatte ich noch behauptet, ich würde später mittels GPS-Gerät überprüfen, ob der Kurs geeignet ist, unsere Abdrift zu kompensieren und gegebenenfalls nachjustieren. Ich merke aber gleich, dass Feinjustierung hier kein Thema ist und sage der Gruppe, dass wir die ganze Zeit zwei-eins-null steuern werden. Betzi, die ohne Kompass fährt, wünscht sich von mir, dass ich ihr eine Landmarke am gegenüberliegenden Ufer nenne, die sie ansteuern kann. Ich gebe ihr auch das südlichste momentan sichtbare Ende von Alsen als Anhaltspunkt. Wir merken beide schnell, dass das nicht lange gilt, aber Betzi kommt prima auch ohne weitere Ansage zurecht.
| Heller Bereich: Zeit auf dem Wasser |
Ich beobachte meine Mitpaddler aufmerksam und unablässig. Alle fahren konzentriert aber unverkrampft. Alle Angriffe brechender Wellen werden souverän abgewehrt. Es gibt aber drei Dinge, die mir krause Gedanken bereiten. Das erste ist die Möglichkeit, dass jemand seekrank werden könnte. Ich habe das Wort Seekrankheit vorher bewusst nicht ausgesprochen, weil es schon einen unguten Effekt hat, wenn dieses Wort einem nur im Hirn rumgeistert. Sollte jemand tatsächlich innerlich zerfallen, werden wir eben damit umgehen.
Das Zweite ist die Tatsache, dass die Gruppe einen deutlich südlicheren Kurs als 210 Grad steuert. Ich versuche anfangs noch auf Kurs zu bleiben, muss aber erkennen, dass wir uns dadurch so weit voneinander entfernen, dass mir damit nicht mehr wohl ist. Also fahre ich immer wieder näher an die Gruppe oder winke sie zu mir heran. Irgendwann versuche ich zu erfragen, ob alle den verabredeten Kurs problemlos fahren können, erkenne aber quasi im Fragen, dass meine Frage und die jeweilige Antwort eigentlich vollkommen belanglos sind - hier sprechen einfach die Tatsachen! Ich kann schlecht darauf pochen, dass ich den korrekteren Kurs fahre, aber dann die Gruppe verlieren. Also sortiere ich einfach meine Prioritäten neu: Erstens: Gruppe zusammenhalten, zweitens: Kurs 210 halten! Dadurch fahren wir gewissermaßen eine reziproke Hundekurve.Die dritte Besorgnis ist die Tatsache, dass wir eine ziemliche Strecke gegen einen ziemlichen Gegenwind paddeln müssen. Da muss man mit den Kräften haushalten. Am Anfang ist das Blut voller Adrenalin und die Muskeln noch voller Energie. Das verleitet dazu, am Anfang stärker reinzuhauen, als für eine lange Zeit gut ist. Es ist schwer einzuschätzen, ob das Tempo, das eine Gruppe fährt, so nachhaltig ist, dass es für die gesamte Tour reicht. Hier kommt mir Betzi zu Hilfe, die ziemlich bald ein etwas langsameres Tempo als der Rest der Gruppe fährt. Das gibt mir die Gelegenheit, den Rest der Gruppe abzubremsen. Die anderen passen sich bereitwillig unserem Tempo an. Das Optimum an Gruppendichte verdanken wir der Begegnung mit einem Segler! Der stampft in der Ferne schräge auf uns zu. Er hat Fock und Großsegel extrem gerefft und liegt trotzdem mächtig schräg im Wasser. Je näher er uns kommt, desto enger scharen sich meine Begleiter um mich. Ich höre einige hektische Kommentare aus der Gruppe, kümmere mich aber nicht weiter darum. Ich weiß, dass Anja immer sehr ängstlich auf Schiffsbegegnungen aller Art reagiert. Es besteht keine Gefahr einer Kollision, aber ich stelle das Paddeln trotzdem kurz ein, um ihn in sicherem Abstand passieren zu lassen. Die Mannschaft winkt uns kurz zu und ich erwidere den Gruß.Nachdem der Segler passiert hat, nimmt die Wellenhöhe langsam ab. Kaum merklich zwar, und es sind immer noch beachtliche Kaventsmänner darunter, aber das Ärgste haben wir hinter uns. Auch der Wind bläst nicht mehr ganz so garstig, eine Konsequenz, dass wir näher an Alsen sind und die Insel ihre schützende Wirkung entfalten kann. Ich habe den Eindruck, dass unsere Geschwindigkeit etwas nachlässt und auch die Gruppe sagt hinterher, dass ihr im zweiten Teil etwas die Kräfte ausgingen. Aber wenn man auf unsere GPS-Daten sieht, lässt sich ein Nachlassen nicht bestätigen - wir sind im letzten Teil sogar geringfügig schneller geworden! Als wir nicht mehr weit vom Land entfernt sind, setzt sich Sabine deutlich nach Süden von der Gruppe ab. Normalerweise wäre sie mir viel zu weit weg gewesen, aber hier lasse ich sie einfach fahren. Ich kenne sie und weiß sofort, dass sie nur Anlauf nimmt, um einen möglichst guten Surf zu erwischen. Die anderen rufe ich erst etwas später zusammen, damit wir im dichten Pulk und mit dem Wind im Rücken die Hafeneinfahrt von Fynshav queren. Hier versuche ich auch, die schiebenden Wellen zu nutzen und erreiche meine maximale Geschwindigkeit von 13,4 km/h!Hinter der Hafenmauer ist das Wasser so glatt, dass man glaubt, mit einer Luftmatraze nach Lyö paddeln zu können. Als Ausklang der wunderschönen, auf dem Hinweg magischen und auf dem Rückweg fordernden Tour lassen wir uns auf dem Campingplatz Naldmose von den überaus sympatischen deutschen Betreibern Kaffee und Kuchen servieren.