Doch hier bekommt die Geschichte einen kleinen Schönheitsfehler. Denn leider ist mein treuer Fotoapparat seit meiner letzten Tour erst ab- und dann nicht wieder aufgetaucht, so dass er nicht als glaubwürdiger Zeuge Bilder dieses schier unfassbaren Anblicks beisteuern kann. Natürlich haben meine beiden Mitfahrer darauf gebaut, dass ich als verlässlicher Chronist schon für das zugehörige Equipment sorgen würde. So bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als mit Worten den dicken Pinsel zu schwingen und den Erlebnissen und Eindrücken einen physischen Niederschlag zu verleihen, der über die Zeit weder blasser noch krasser wird.
Wie sind wir hier her gekommen? Nun, das war nicht einfach. Die Herbsttour der vier „Unerschrockenen“ stand an. Einer muss sich momentan eher um den Aufbau und Fortbestand der Gesellschaft kümmern, so dass er leider nicht teilnehmen konnte. Die anderen drei haben sich auf eine Umrundung der Insel Ärö verständigt. Nach quälenden Wochen schlechten Wetters sollte für den Termin unserer Unternehmung alles zum Besten bestellt sein: Das gesamte Wochenende niederschlagsfrei, sonnig bei moderaten Herbsttemperaturen. Wind durchgängig aus östlichen Richtungen. Klang gut, aber das mit dem Wind hätte man doch noch etwas besser arrangieren können.
In Mommark am Start zerrten die Flaggen stramm an ihren Masten. Fünf Beaufort genau von vorne, da biss die Maus keinen Faden ab. Mein Gott - gute zehn Kilometer und die Sonne scheint. „Unerschrocken“? Da kann uns so etwas ja wohl höchstens ein müdes Lächeln abringen. Wenn der Wind seit Tagen aus mehr oder minder derselben Richtung über eine freie Wasserfläche von über zehn Kilometern Länge bläst, kann man mit einigem Recht eine Welle in gefälliger Höhe und Ebenmaß erwarten. Dieses Recht gilt auf dem kleinen Belt nicht! Als Ingenieur und an weltliche Ursachen glaubender Mensch, habe ich auch eine einigermaßen plausible Erklärung parat: Der östliche Wind erzeugt auf dem Belt zwar Wellen in seiner eigenen Richtung, zusätzlich laufen aber durch die Gatten zwischen den Inseln auch noch Wellen aus dem Inneren der dänischen Südsee schräge herein. Zuletzt rollen dann auch noch die Wellen der offenen Ostsee an der Südküste von Ärö entlang in dieses Seegebiet, so dass sich in der Summe ein wunderschönes Chaos ergibt, in dem keine Sekunde lang die Gefahr besteht, dass man sich an einen Rhythmus gewöhnen müsste.
Das ist es, was ich will! Wind und Gischt im Gesicht, Sonne am Himmel und im Gemüt und die Aussicht auf ein paar Tage in der freien Natur. Und wenn ich in die Gesichter meiner Mitfahrer sehe, geht es ihnen nicht anders. Zugegeben, die Boote bewegen sich nicht von alleine in die gewünschte Richtung, aber die von allen Seiten kommenden, bis einen Meter hohen Wellen zu durchpflügen, zu durchplumpsen, seitlich an ihnen herunter zu rutschen und sich von ihnen emporheben zu lassen, das ist das pure Vergnügen. Die Sicht ist diesig und Ärö ist erst nach etwa einer halben Stunde als blasse Ahnung zu erkennen. Nach einer dreiviertel Stunde verkündet Jörg die Sichtung des Leuchtturms. Und natürlich wird die Ansicht der Insel immer detaillierter, aber zwei Tatsachen sorgen dafür, dass unser Vergnügen länger dauert, als wir erwartet haben. Zum einen dreht der Wind immer mehr auf, so dass er schließlich sechs Beaufort erreicht, zum anderen zieht jemand kontinuierlich am anderen Ende der Insel, so dass sich der Abstand zu ihr eine verdammt lange Zeit nicht die Bohne verkleinert. Beide Umstände bescheren uns zusammen mit der hereinbrechenden Dunkelheit die Gelegenheit, diesem wunderschönen Leuchtturm über Gebühr lange bei seiner Arbeit zusehen zu dürfen.
Der Strand direkt unterhalb des Leuchtturmes sieht nicht einladend aus und oberhalb ist auch keine standesgemäße Zeltmöglichkeit zu erkennen. Ich weiß von meiner Unternehmung im letzten Jahr, dass direkt hinter der Nordspitze ein Flach existiert, wo es geschützte Zeltmöglichkeiten gibt und wo auch ein Sandstrand zum Anlanden vorhanden ist. Zugegeben es ist mittlerweile deutlich nach sieben - damit also wirklich dunkel - und hinter der Nordspitze der Insel sind wir dem Sechser-Wind gnadenlos ausgeliefert, aber der Abend ist noch jung und wir sind zum Paddeln hier und nicht, um uns in der erstbesten windgeschützten Ecke zu verstecken.
Leider ist das Flach doch weiter von der Nordspitze entfernt, als ich es in der Erinnerung abgespeichert hatte und außerdem müssen wir einen erklecklichen Sicherheitsabstand vom Ufer halten, um nicht von der Brandung gefressen zu werden. So wird das „eben mal um die Ecke“ paddeln eine ausgesprochen anspruchsvolle Angelegenheit. Jörg fährt so dicht neben mir, dass trotz des tosenden Windes fast so etwas wie Verständigung möglich ist. Wo ich denn hin will, ist seine Frage nach einiger Zeit. „Zu den Bäumen!“ meine Antwort, mit der er sich auch vorerst zufrieden gibt. Wir müssen zuerst die Spitze des Flachs umrunden und dann an seiner Ostseite entlang fahren. Natürlich ist das Wasser auch in erklecklicher Entfernung vor der Spitze noch flach und damit Garant für große brechende Wellen. Bevor wir uns ihm nähern, kommen wir noch einmal dichter zusammen, denn trotzdem uns der Schein des Leuchtturmes von Zeit zu Zeit aus dem Dunkel aufleuchten lässt, verliert man sich schnell aus dem Blick. Als direkt vor der Spitze eine besonders große und steile Welle auf mich zurollt und ich mehr als schulmäßig in sie hineinstütze, weil ich auf jeden Fall ein Hinabkullern auf der falschen Seite verhindern will, weiß ich, dass der sorglose Spaß-Modus vorbei ist. Wenn hier einer wegtaucht, kann sich das zu einem ernsthaften Problem auswachsen.
Nach der Kehre haben wir die Wellen schräge von hinten, auch das will mit Bedacht gehandhabt sein. Jörg kommt wieder mit seiner Frage längsseits, wo ich denn hin will. „Zu den Bäumen!“ ist immer noch meine klare Antwort. Es ist Nacht und es ist Neumond und man sieht eigentlich nur zwei Dinge: In unmittelbarer Nähe weiß schäumende Wellen und in einiger Entfernung sich tiefschwarz gegen den mattschwarzen Himmel abhebend - überall Bäume. Jörg ist mit meiner Auskunft noch nicht vollends zufrieden und wir kommen ins Gespräch. Während ich versuche, ihm meinen Plan näher zu bringen, arbeiten die Wellen stetig daran, uns der Brandungszone näher zu bringen. Irgendwann sehe ich einen Brecher auf uns zurollen und bitte Jörg, sich seewärts davon zu machen, damit er nicht über mich rollt und ich selbst stützen kann. Jörg kommt gerade noch weg, aber ich mache die Rüttelnummer nach rechts. Als ich zum Ufer blicke, bin ich geschockt, wie dicht es ist und überlege einen kurzen Moment, blitzschnell die Biege zu machen. Aber es ist zu spät und „blitzschnell“ mit schwerem Boot ist schwierig. Ich hätte meinen Nachen nie rechtzeitig herum bekommen und wäre dwars auf einen Strand unbekannter Konsistenz gespült worden. So entscheide ich mich für die andere Möglichkeit, spitz auf das Ufer zuzulaufen, das Beste draus zu machen und ebensolches zu hoffen. Zwar ist die Landung nicht gerade behutsam zu nennen, aber über die Beschaffenheit des Untergrundes kann man nicht meckern: es ist überwiegend sandig, leider eingelagert ein gerüttelt Maß faust- bis kopfgroßer Steine.
Nicht, dass wir es gewollt hätten, aber der Platz, an dem wir angelandet sind - oder sollte ich sagen, an dem es uns ans Ufer gespült hat? - war schon optimal gewählt. Keine zwanzig Meter weiter fehlt der Sand zwischen den faustgroßen Steinen. Auch in die andere Richtung sind die Verhältnisse eher schlechter als besser. Da ich felsenfest davon überzeugt bin, dass „bei den Bäumen“ ein lieblicher Sandstrand ist, stolpern wir noch eine ziemliche Strecke durch die Dunkelheit am Ufer entlang. Was sich unserem Auge im Schein meiner Stirnlampe hier bietet, lässt uns dankbar sein für die Entscheidung der Brandung, uns ans Ufer zu spülen: Von Sand nirgendwo eine Spur! Jede Anlandung an einem anderen Ort hätte in einer Katastrophe gemündet!
„Ich sag doch: letztes Jahr war da Sand!“ |
Natürlich trägt das Flach seinen Namen nicht umsonst und gäbe es Windschutz, würde es nicht so heißen! Zeltaufbau bei strammem Wind in absoluter Dunkelheit dauert etwas länger. Irgendwann fällt das Licht der Stirnlampe auf meine Hände. Was ich da sehe, verwirrt mich zunächst und es besorgt mich auch etwas: Sämtliche Knöchel beider Hände sind ziemlich blutig. Nach kurzem Grübeln ist mir klar, dass das der Preis dafür war, dass ich unter den geschilderten Verhältnissen mit einem trockenen Cockpit aus dem Wasser gekommen bin: Ich habe mich mit den Fäusten so lange am Strand abgedrückt und nach vorne geschoben, dass ich meine Spritzdecke gefahrlos öffnen konnte, ohne dass mir das Cockpit bis zum Anschlag geflutet wurde. Prima Idee eigentlich. Keine ganz so gute Idee, wenn der Strand mit Muscheln, Schnecken und spritzen Steinen übersät ist. Zum Glück war es ja dunkel, so dass ich nichts gesehen und das Wasser kalt genug, dass ich nichts gefühlt habe. Allerdings werden mir die Knöchel noch die ganzen nächsten Tage weh tun.
Einer der faszinierenden Umstände in unserer Kleingruppe ist die Tatsache, wie schnell wir uns bei geänderten Umständen auf einen neuen Plan einigen. Wobei „einigen“ die Sache nicht wirklich präzise trifft: Einer spricht aus, was sich die anderen auch eben gedacht haben und schon ist der Plan fertig! Der Wind weht heute Morgen mit vier bis fünf Beaufort aus Nordost und ein Stampfen gegen ihn und die Wellen auf der Nordseite würde kaum Spaß aufkommen lassen. So wird die geplante Umrundung Ärös im Uhrzeigersinn ohne große Diskussion in ein Entlangpaddeln an der Südküste umgewandelt. Wir arbeiten uns dicht unter der Steilküste ans Ufer geschmiegt nach Süden vor, peinlich darauf bedacht, den Windschutz durch die Klippen auszunutzen, bis wir einen wunderbaren Übernachtungsplatz unter fauchenden Windrädern finden. Unterwegs begegnen wir einem Eingeborenen von Ärö, der mit einem mir bislang unbekannten Kajaktyp eine andere Strategie verfolgt als wir: „Wo geht’s hin?“ „With the winds.“ „Und wie zurück?“ „I will phone someone.“
Die Kleingruppe |
Unser Rückweg am Sonntag wird nur noch von zwei bis drei Beaufort Wind unterstützt. Das gibt nicht mehr die schönen Wellen, gegen die wir auf der Hinfahrt angekeult haben, aber wir sind dankbar für diese leichte Hilfe. Die Tour lässt uns auch ohne Fotoapparat mit Bildern erfüllt zurück. Aber sie hat auch zwei offene Enden erzeugt, die irgendwann geschlossen werden wollen: Zum einen ist da die Umrundung Äros, die eine reizvolle Tour verspricht, wenn einem nicht der Wind wie diesmal allzu garstig ins Gesicht bläst und zum anderen und vor allem: Die wunderbare Leuchtturm bei Nacht zu fotographieren!
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