Sonntag, 30. September 2012

Einheitstour: Zwischen den Inseln (2/4)

Das Schöne an der Ostsee ist, dass das Wasser immer da ist! Aufstehen ist, wenn man nicht mehr schlafen mag und Losfahren, wenn der innere Drang Bewegung einfordert. Keine Tide, die einen zum Aufstehen vor dem Aufwachen nötigt, keine Sorge, ob noch genug Wasser unterm Kiel bleibt, kein äußerer Druck, das Frühstück beschleunigt einzunehmen. Ostsee ist so richtig zum Erholen. Das wollen wir würdigen! Beim Hafenmeister entrichten wir unseren Obulus und greifen den frischen Wetterbericht ab. West fünf bis sechs, in Böen sieben. Die Außenküste von Hiddensee sollten wir heute lieber meiden.

Entsprechend unserem Vorhaben, dass wir hier zur Erholung sind, lassen wir es mit dem Frühstück und der Vorbereitung sehr gemütlich angehen. Wir unternehmen einen Spaziergang zum nahegelegenen Aussichtsturm, von dem aus man einen fantastischen Rundblick über die Umgebung hat. Man kann Hiddensee wunderschön im Dunst erkennen und auch, dass an seiner Westseite ziemlicher Seegang herrscht. Peter hat sein Tschibo-Fernglas dabei, mit dem man jedes Detail erkennen kann. Vor uns liegt eine Landschaft, die fast ein wenig an das Wattenmeer erinnert mit den vielen Flachs und bei Wind trockenfallenden Stellen. Es ist ein zum Paddeln hervorragend geeignetes Revier.

Wir geben unserer Ausrüstung noch ausgiebig Gelegenheit, in der Herbstsonne zu trocknen und überlegen uns, wie wir die nächsten Tage gestalten könnten. Peters "Jübermann" leistet uns wertvolle Dienste dabei. Und ich genieße es, einmal nicht derjenige zu sein, der sich alles überlegen muss und den jeder fragt, wo es denn nun lang geht. Wir wollen zwischen Hiddensee und Rügen nach Norden fahren und sehen, ob wir nördlich von Schaprode irgendwo ein Plätzchen zum Übernachten finden. "Auf Hiddensee ist jegliches Aufstellen von Zelten verboten!" Ich bin entschieden nicht einverstanden mit dieser so absoluten Absage an alle friedlichen Wasserwanderer! Zum Wohnwagen-Stellplatz nördlich von Schaprode sagt der "Jübermann": "Zelte werden abgewiesen!". Auch nicht ermutigend, aber wer weiß, ob das um diese Jahreszeit in solcher Absolutheit zutrifft. Wir werden sehen.

Unser Ziel liegt eigentlich nordöstlich, aber wir müssen zuerst ein ziemliches Stück nach Südosten fahren, denn ein ausgedehntes Flach versperrt uns den Weg, und ein lauerndes Schnellboot der Wasserschutzpolizei verleiht der doppelt schraffierten Naturschutzzone nachdrücklich Glaubhaftigkeit. Aber natürlich kürzen wir wieder ein klitzekleines bisschen ab und natürlich ziehen wir hier wieder eine rauschende Heckwelle hinter uns her. Die Segler bleiben alle in der hier sehr engen Fahrrinne und sind auch nicht viel schneller als wir, obwohl viele von ihnen den Motor als Hilfe einsetzen. Trotzdem der Wind recht westlich daher kommt, können wir noch einigermaßen auf den Wellen surfen und kommen gut voran.


Wir wollen in Schaprode eine Pause einlegen, schließlich gilt es einiges zu erledigen, was zivilisatorische Infrastruktur voraussetzt: Wir wollen einen Geldautomaten plündern, denn mit unserer Barschaft können wir keinen großen Staat mehr machen. Dann wollen wir die Fährverbindungen in Richtung Zingst auskundschaften. In den nächsten Tagen wird überwiegend westlicher Wind herrschen und wenn wir eine Fähre fänden, die uns in die Nähe unseres Startplatzes bringt, könnten wir entspannter in die Zukunft blicken. Ich erinnere mich noch von meinem Urlaub vor zwanzig Jahren, dass am Ortseingang etwas war, das uns damals sehr gelegen kam. Im Nebel meiner Erinnerungen kann ich aber nicht klar erkennen, ob es sich vielleicht um einen Geldautomaten gehandelt hat. Ein kleiner Ortsrundgang schafft Klarheit: Es handelt sich nur um einen Lebensmittelladen. Ein Geldautomat gibt es nur in Trent - sechs Kilometer Fussmarsch, die mit meinen eine halbe Schuhgröße zu kleinen Neoprenschuhen nicht zu schaffen sind. Aber in Vitte auf Hiddensee gibt es einen - und da wollen wir morgen ja hin. Auch die erhoffte Fährverbindung nach Zingst gibt es hier nicht sondern ebenfalls nur von Vitte aus. Das würde prinzipiell passen, aber leider fährt die Fähre nur dienstags und ist erst im 19 Uhr in Zingst. Wir werden wohl anders zurecht kommen müssen.

Das letzte Stück bis zum Wohnmobil-Stellplatz ist schnell geschafft. Wir landen an einer gemähten Wiese nördlich davon an. Ich mache der Eignerin die fröhliche Mitteilung, dass wir bei ihr übernachten möchten, aber die reagiert etwas unwirsch mit der Feststellung, dass hier ein Stellplatz sei und kein Zeltplatz. Meine naiv ungläubige Frage, wo denn da das Problem sei, entkräftet sie mit der wenig freundlicheren Aussage, dass unsere Zelte eben keine Wohnwagen seien. Mir dämmert ihr Dilemma, dass sie nämlich keine Lizenz hat, unserem Wunsch zu entsprechen und ich baue ihr die goldene Brücke, dass wir eigentlich auf der Wiese nördlich ihres Geländes übernachten möchten. Mit einem "Da kann ich nichts machen." ist die Sache geklärt und wir bestellen noch drei Brötchen für Morgen.


Die Wiese bietet einen traumhaften Blick über den Bodden nach Hiddensee und den Nordteil von Rügen. Die Sonne macht sich auf, hinter dem Horizont zu verschwinden und färbt den Himmel wunderschön rot. Kranich- und Schwäneschwärme wechseln sich ab, um vor dieser Kulisse vorüber zu ziehen.

Als wir unsere Zelte aufbauen, ackert auf der Wiese hinter uns ein Bauer mit seinem Trecker, der emsig den Boden umpflügt. Es ist dunkel und es ist Sonntag und wir fragen uns, warum um alles in der Welt man seinen Acker unbedingt zu so einer Zeit pflügen muss. Die einzige halbwegs befriedigende Erklärung, die wir finden, ist die Tatsache, dass es nicht nur dunkel ist, sondern auch Vollmond herrscht und irgendein heiliger Kalender gebietet, seine Scholle nur bei vollem Mond umzuwerfen - egal ob Sonntag ist oder nicht. Das Rumpeln und Brummeln des Traktors hallt noch durch die Nacht, als wir längst eingeschlafen sind.

Alle Fotos der Tour...

Samstag, 29. September 2012

Einheitstour: Zur Einheit nach Osten! (1/4)

Dieses Jahr scheint das Jahr des spontanen Peters zu sein! Hatten wir nicht schon die Tour zu Pfingsten eigentlich zu dritt geplant und Peter schweren Herzens außen vor gelassen, weil er für unsere hochtrabenden Pläne nicht das Maß an Vorbereitung leisten konnte, das notwendig gewesen wäre? Und hatte nicht Peter sich spontan und auf die letzten Tage entschlossen, mich als einziger zu begleiten, nachdem die beiden anderen durch Schiksal und böse Mächte aus dem Rennen geworfen wurden? Ja und ja und hatte er. Und die Dinge ähneln sich, denn auch für die zweite große Unternehmung, für die wir fast ein Jahr im Voraus den Termin festgenagelt hatten, könnte die Überschrift lauten "Manchmal kommt es anders...". Und auch diesmal entschließt sich Peter kurzfristig, mich bei einer Tour um Samsö herum zu begleiten. Ich bin froh, dass er zugesagt hat, denn neues Land zu entdecken, ist zu zweit viel schöner als alleine.

Ich bin aber auch etwas in Sorge, dass ich ihn überredet habe, denn die Tage vor dem Termin ist das Wetter alles andere als geeignet, in einem den Wunsch und das Verlangen zu wecken, vier Tage lang mit Zelt und Schlafsack am nasskalten Busen der Natur zu verbringen. Auch die Vorhersage lässt nichts Gutes ahnen und als ich am Freitag von der Arbeit nach Hause fahre, ist mir eigentlich klar, dass Skagerak und Samsö bei dem vorhergesagten Wind und den herrschenden Luft- und Wassertemperaturen keine wirklich ernstgemeinte Ansage sein kann. Nur will ich meinen so lange gehegten Plan, eine ausgedehnte Paddeltour zu machen, nicht abhaken, und da mir keine geeignete Alternative einfällt, halte ich vorerst weiter am Unhaltbaren fest. Aber die Seekarten, die ich auf dem letzten Drücker von Jens bekommen habe, knicke ich erst einmal noch nicht.

Ich bin so beschäftigt, meine Siebensachen zusammenzupacken, dass ich auch gar keine Zeit habe, über Alternativen nachzudenken, als Peter mich anruft, um das Absehbare und Erwartete auszusprechen: "Samsö is nich!" Aber Peter wäre nicht Peter, wenn er es bei einem Abblasen belassen würde. Auch er muss raus und will die eingeplante und freigekämpfte Zeit nutzen. Und er hat einen Vorschlag: Zischland, Fingst und Rügen - oder so. Da war ich vor zwanzig Jahren das letzte Mal - mit einer schwangeren Frau, die mit ihrem dicken Bauch gerade eben noch durch die Luke unseres Faltbootes passte. Das war ganz nett und ich hätte Lust, mir das Gebiet mal wieder anzusehen. Wir fantasieren etwas von Sauna und Standquartier und besiegeln, dass alles bleibt, wie abgesprochen: Viertel nach zehn am Bootshaus, Sachen packen und drei Stunden Autofahrt - nur die Richtung würde leicht anders sein: Osten statt Norden!

In Segeberg leisten wir uns eine verpasste Autobahnausfahrt - keine große Sache. Ich erwähne das hier nur, weil es wirklich ungewöhnlich ist für uns beide. Wir sind darauf gedrillt, in navigatorischen Belangen äußerste Aufmerksamkeit walten zu lassen, immer anderthalb Augen darauf gerichtet zu haben, wo wir gerade sind und welchen Kurs wir als nächstes steuern müssen. Wäre das nicht so, könnten wir unmöglich so anspruchsvolle Touren unternehmen.

Im Auto werden alle verfügbaren Karten studiert, Einsetzstellen erwogen, Übernachtungsplätze ins Auge gefasst und Tourverläufe diskutiert. Peter kennt sich bereits gut aus hier und hat viele Ideen. Ich bin eher interessiert und zu jeder Schandtat bereit als eine große Hilfe, eigene Vorschläge zu machen. So entsteht der Plan, von Zingst aus den Bahrter Binnenbodden zu bepaddeln und dann eventuell in einem kleinen Häfchen gegenüber von Rügen zu übernachten. Aus Zingst wird später Pruchten, denn das liegt günstiger und dafür müssen wir nicht ganz so weit fahren.

Wir haben uns für Trockenanzüge entschieden, denn schließlich ist Herbst und Wasser und Luft sind nicht mehr wirklich mollig. Wir rechnen mit durchwachsenem Wetter und wollen gewappnet sein. Zwar müssen wir für vier Tage Proviant und Ausrüstung in unsere Boote zwängen, aber das bereitet keinem von uns übermäßige Mühen, denn unsere Kajaks haben nicht die knappen Maße, bei denen Askese keine Frage der Einstellung sondern eine schlichte Notwendigkeit wäre. Peter hat sich nach der ernüchternden Erfahrung auf Amrum sogar große Räder für seinen Bootswagen besorgt - er will sich nicht noch einmal von mir abhängen lassen beim Schleppen über Sand!

Wir sind kaum auf dem Wasser, da fliegen schon die ersten Kraniche über uns hinweg. Das Wasser heißt hier "Strom" und ist die großzügige Mündung eines kleinen Flüsschens. Es weht ein spürbarer Wind aus Westen, der uns vorantreibt. Als wir in den "richtigen" Bodden laufen, lernen wir gleich eine seiner wesentlichen Eigenschaften kennen: Bodden sind flach! So flach, dass man sogar mit einem Kajak auflaufen kann. Aber zum Glück sind die flachen Stellen hier allesamt mit Schwänen markiert, so dass man sie schon von weitem erkennen kann. Allerdings muss man doch den einen oder anderen Umweg fahren, was man manchmal erst einsieht, nachdem man eine Weile lang eine gehörige Heckwelle hinter sich hergezogen hat, die die ganze Energie verbraucht, die in tiefem Wasser in Geschwindigkeit umgesetzt worden wäre.

Anfangs ziehe ich noch zweimal meinen Südwester auf, muss ihn aber jeweils nach fünf Minuten wieder verstauen, weil es weder regnet noch kalt genug ist, dass sein Einsatz gerechtfertigt wäre. Je weiter der Abend gedeiht, desto mehr reißt der Himmel auf. Eine ungewöhnliche Milde macht sich breit in Licht und Luft und entfaltet Wirkung im Gemüt. Aus dem Horizont quellen stoßweise unerschöpfliche Mengen Kraniche hervor, die direkt und niedrig und trötend über uns hinweg segeln. Die sinkende Sonne lässt ihre grauen Körper in warmem Rosa leuchten. Wir sind sprachlos über diese fast unwirklich anmutende Szene: Allein auf weiter Flur - oder besser: auf flachem Bodden - treiben wir von einem freundlichen Wind geschoben unter weißen Wolken über grünes Wasser, am Himmel eilen die Kraniche ihren Schlafplätzen zu, Gänseschwärme huschen an uns vorbei, im Wald neben uns geht ein Hirsch spazieren. Am Ufer sind von Zeit zu Zeit Beobachtungshütten zu sehen, in denen Vogelfreunde sich ihre Hintern plattsitzen, um eventuell und kurzzeitig mal einen Blick durch ihre meterlangen Teleskope auf einen Kranich werfen zu können - und wir werden von diesen scheuen Tieren fast umgeflogen! Ich liebe das Paddeln!


Um viertel vor sieben ist die Sonne endgültig hinter dem Horizont versunken und es wird rapide dunkler. Zum Glück sind wir nicht mehr weit von unserem Etappenziel entfernt, aber als wir das schmale Fahrwasser vor dem Hafen überqueren wollen, müssen wir noch einmal anhalten, um einen mit Höchstgeschwindigkeit heranrauschenden Motorboot die Vorfahrt zu lassen. So schnell fahrende Objekte sind wir von der Förde einfach nicht gewohnt. Der Hafenmeister von Barhöft macht um 19:00 s.t. Feierabend - als Akademiker sind wir leider erst um 19:00 c.t. eingetroffen. Geschenkt. Dann melden wir uns eben morgen an - und pinkeln so lange in den Wald. Wir ziehen uns bald in unsere Nylon-Hütten zurück, denn wir sind einigermaßen müde - von der Tour und vom Leben davor. Peter gibt bald schnurrende Geräusche von sich, ich zelebriere noch die obligaten Tour-Tortellinis und kuschele mich dann auch in meine Daunen.

Alle Fotos der Tour...