Der Nachmittag fängt heute schon vor Sonnenaufgang an. Zumindest ist die Windstärke bereits vor dem Aufstehen hörbar so, wie sie erst für den frühen Nachmittag vorgesehen war. Aber so ist das mit schnell laufenden kurzen Störungen: es ist schwer vorherzusagen, wann sie denn genau eintreffen. Ich bin nicht überrascht und eigentlich ist es mir viel lieber, wenn es jetzt schon ordentlich weht und bald nachlässt, als wenn es uns trifft, während wir unterwegs oder noch übler, während wir auf dem Rückweg sind.
Gestern Abend war es lau und trocken, so dass wir vor den Zelten gekocht und gegessen haben. Heute Morgen ist es eher schauerlich, und dass jeder in seinem eigenen Zelt hockt, ist doof. Aber da ist ja die Bretterbude auf der Nachbarwiese, die bis über alle Ohren vollgestopft ist mit Holzbänken. Da geht doch was. Im Nu bringen wir etwas Ordnung in das Chaos und schon haben wir eine Bank vor der Hütte stehen, die uns als Tisch dient und eine wind- und regengeschützt im Inneren, auf der wir sitzen. So kommt trotz der immer wieder niedergehenden Schauer so etwas wie Behaglichkeit auf. Wir haben ja keine großen Pläne heute - nur eben in die Helnäs-Bucht, um einen neuen Übernachtungsplatz zu erkunden. Wenn der Wind etwas abgeflaut ist. Und wie nicht anders erwartet, rauscht es schon etwas vermindert, als ich mir gemütlich die dritte Tasse Tee genehmige. Mit dem Wissen, dass je länger wir frühstücken, desto kürzer müssen wir gegen den immer schwächer werdenden Wind anpaddeln, widmen wir uns gewissenhaft dem inneren Kern unserer Unternehmung - der Entspannung!
Schließlich sind wir so entspannt, dass es uns in den Schwielen juckt und wir endlich lospaddeln wollen. Allein das vermutete Abflauen vorhin war allenfalls ein kurzes Intermezzo - keinesfalls ein Anfang vom Ende des starken Blasens. Beim Blick aufs Wasser bin ich mir nicht sicher, ob das Windstärke sechs ist. Die Frage ist aber nicht, ob es vielleicht nur eine fünf ist, sondern ob es sich nicht doch eher um eine sieben handelt. Aber die Vorhersage hatte nur maximal 13 Meter pro Sekunde betragen, also wird das schon sechs sein. Sein Boot an diesem steinigen Strand ins Schwimmen zu bekommen, ist nicht ganz einfach. Vor allem darf man nicht penibel sein, was Schrammen am Rumpf angeht. Aber wir gehen heute mit leeren Boote auf Tour, so dass es praktisch ohne Risiko ist, über die Steine zu wubbeln.
Der Wind drückt mächtig gegen die Flanke. Er weht genau aus West und unser Ziel liegt im Norden. Da die Boote leicht sind, ragen sie zudem hoch aus dem Wasser und bieten so eine gute Angriffsmöglichkeit. Es kostet einige Mühe, die Richtung so zu gestalten, wie man sie selber gerne hätte, nicht wie der Wind sie einem diktiert. Mir ist gleich beim Start durch die Brandung der Südwester verweht worden und ich habe ihn erst nur notdürftig mit einer Hand zurechtgerückt. Leider kann ich so nicht mehr sehen, wohin ich fahre oder was für Wellen gerade aus was für einer Richtung kommen. Bevor ich ihn aber wieder korrekt richten kann, muss ich erst einmal soweit von der brechenden Brandung freikommen, dass ich nicht auf die großen Steine gespült werde. Als es soweit ist, muss ich das Paddel aus der Hand legen, weil ich beide Hände brauche, um den Stopper am Kinnriemen wieder in Position zu bringen. Das dauert eigentlich nicht lange, aber doch lange genug, dass der Wind meinen Bug wieder in Richtung Verderben dreht und ich lange heftig rudern muss, um wieder auf einen gedeihlicheren Kurs zu kommen. Außerdem möchte man sein Paddel unter solchen Bedingungen nicht wirklich gerne komplett aus der Hand legen.
Leider war das Verrutschen meines Hutes doch kein singuläres Ereignis der Startphase. Der Tanka-Verschluss, der den Kinnriemen in Position halten soll, ist für diese Windstärken leider nicht (mehr) kräftig genug! Es dauert nicht lange, da flattert mir der Hut schon wieder lose am Kopf. Es ist ausgeschlossen, dass ich auf die Kopfbedeckung pfeife und ohne fahre, dafür ist es dann doch eindeutig zu kalt. Ihn nur kurz mit einer Hand dicht auf den Kopf zu ziehen, führt wieder nur dazu, dass ich außer meiner Spritzdecke nichts mehr von der Welt sehe. Die beidhändige Gegenmaßnahme krankt an der eben beschriebenen Malaise, dass ich drohe, zwischen den Steinen zu zerschellen. Es dauert nicht lange, bis mir klar ist, dass ich unter solchen Umständen die Überfahrt nach Fünen nicht machen werde, auch wenn sie nur zwei Kilometer weit ist. Ob ich sie mit einwandfrei fest sitzendem Hut machen würde, weiß ich nicht, aber das muss ich mir im Moment auch nicht überlegen. Ich teile Trenk meinen Entschluss mit. Er ist zwar nicht begeistert, aber ihm ist klar, dass das hier nicht mit Überreden zu regeln ist.
Es bleibt uns die Umrundung von Lyö. Möglicherweise sind wir die ersten, die das probieren. Jedenfalls ist mir aus der Literatur nichts derartiges bekannt. Nachdem wir den Wind achterlich haben, sind die Haftprobleme meines Südwesters wie weggeblasen und wir rauschen um die Nordspitze der Insel. Dahinter ist ruhiges Wasser, aber der Wind wird nur sehr unvollständig durch die flache Landschaft abgeschirmt. Als wir an der Ostspitze aus dem Schutz der Insel heraustreten, erfasst er uns mit voller Wucht genau von vorne. Es ist mittlerweile deutlich Nachmittag und die "kleine Störung" zeigt immer noch keine Neigung, sich abzuschwächen. Unsere Geschwindigkeit geht immer mehr den Bach hinunter und ich frage mich ab und zu, ob wir überhaupt noch Land gewinnen gegen den brüllenden Wind. Zu allem Überfluss gehen alle naselang Regenschauer nieder. Solche, bei denen man denkt, die Tropfen sind eckig, so hart fühlen sie sich im Gesicht an. Und hatte ich schon gesagt, dass mein Hut das gar nicht witzig findet? Irgendwann in einer besonders harten Bö fliegt er mir vollends vom Kopf und als ich versuche, ihn wieder einzufangen, ist mein Boot fast komplett herumgeweht und ich weiß nicht, ob ich es noch vor dem Aufschlagen am Strand eingefangen bekomme und ob es überhaupt Sinn macht, jetzt mit aller Gewalt gegen den Wind anzukeulen, der ja eh gleich nachlassen wird... kurzum, ich suche mir entnervt eine Stelle zum Anlanden.
Natürlich gibt es keine, denn das Ufer ist vollkommen sandfrei und überall liegen koffergroße Steine herum. Aber wenn man genau hinsieht, gibt es da immer wieder dichte Algenfelder zwischen den Steinen, die Wellen und Steine abfedern und ein erstaunlich geräuscharmes Anlanden ermöglichen. Nach einer kurzen Weile hat Trenk gemerkt, dass ihm niemand mehr folgt und er kommt zurück, um auch anzulanden. Sein Versuch, in der Nähe meines Bootes an Land zu kommen, wird derart vom Winde verweht, dass er erst etwa hundert Meter weiter in Lee zum Stehen kommt. Wir sitzen etwas unentschlossen im Wind und genießen das Naturschauspiel einer komplett weiß aufgewühlten Südsee. Eine Befragung unserer GPS-Geräte verrät, dass es noch zwei Kilometer Luftlinie bis zu unserem Zeltplatz sind. Lächerliche zwei Kilometer!
Es dauert über eine Stunde, eine Banane und ein Snikkers, bis ich einerseits soweit wieder erholt bin, dass ich mir die lächerlichen zwei Kilometer zutraue, und andererseits so hoffnungslos, dass ich nicht mehr glaube, dass diese "kurze" Störung noch mal ein Ende findet. Mittlerweile bin ich übrigens auch überzeugt, dass es sich hier tatsächlich um Windstärke sieben handelt. Bei so etwas paddelt man nicht mehr - und ich bin meinem Südwester dankbar, dass er mir die Entscheidung abgenommen hat, die Überfahrt nach Fünen zu machen. Nachdem wir dem Wind und dem Regen (wieso kann es überhaupt so heftig regnen, wenn weit und breit keine Wolke zu sehen ist?!) die letzten zwei Kilometer abgerungen haben, müssen wir unsere Boote die letzten hundert Meter noch über Land tragen. Da war eine Art Bucht mit einem kaum sichtbaren Kehrwasser, das ein vollkommen schrammenloses Anlanden ermöglicht hat. Direkt vor unserem Zeltplatz hätte sich wieder die eine oder andere Marke in den Bootsrümpfen verewigt. Es weht dermaßen stramm, dass man schon beim normalen Gehen auf festem Grund immer wieder aus dem Gleichgewicht geweht wird. Während wir triefnass unsere Boote über Land zu unserer Zeltwiese zurücktragen, begegnet uns ein Jäger, der seine Schrotflinte spazierenträgt. Er muss uns für komplett meschugge halten, sich erst bei einem derartigen Wind mit Booten aufs Wasser zu wagen und sie dann über Land zurückzutragen. Er sagt aber kein Wort.
Das Banklager leistet uns willkommene Dienste als Umkleide und Teestube. Die Sache mit den Schauern hat sich nämlich immer noch nicht erledigt. Nach einem heißen Tee und etwas Honigkuchen fühlen wir uns bereit für einen ausgiebigen Spaziergang über die Insel. Bei meiner Erkundung vor vier Wochen waren mir schon die zahlreichen Häuser aufgefallen, die bereits sichtbar dem Verfall anheimgefallen waren bzw. an denen "Til Salg" sein Schild angebracht hatte. Heute, da wir im Dunkeln durch die Straßen schlendern, fallen noch viel mehr Häuser auf, dadurch, dass nirgends ein Licht in ihnen glimmt. Erst als wir in die Nähe der Kirche kommen, werden der Ort etwas lebendiger und die Häuser heller. Der Krug am großen Feuerlöschteich ist zwar mittlerweile geschlossen, aber es gibt hier noch einen zweiten Krämer, der nun offensichtlich das Zentrum des Ortes markiert. Immerhin, solange es noch einen Kaufmannsladen gibt, gibt es auch noch Hoffnung. Übrigens gibt es auf Lyö Unmengen von Feuerlöschteichen. Entweder haben die Einwohner hier schlimme Erfahrungen mit Bränden gemacht, oder die Landschaft hat ihnen diese Teiche freiwillig präsentiert.
Als ich nach einem viel zu reichlichen Abendessen lange nicht einschlafen kann, frischt der Wind noch einmal richtig auf. Ich komme extra noch einmal aus meinem Zelt, um mir das Wasser aus der Nähe anzusehen, aber es ist bereits zu dunkel, um noch etwas deutlich erkennen zu können. Aber auch so weiß ich, dass wir morgen eher einen Hubschrauber benötigen würden, um von der Insel zu kommen, als dass wir es bei diesen Bedingungen auf eigenem Kiel riskieren würden.
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Den ganzen Tag lang sieben Beaufort! |