"Immer wenn ich merke, dass ich um den Mund herum grimmig werde; immer wenn in meiner Seele nasser, niesliger November herrscht; immer wenn ich merke, dass ich vor Sarglagern stehenbleibe und jedem Leichenzug hinterhertrotte, der mir begegnet; und besonders immer dann, wenn meine schwarze Galle so sehr überhandnimmt, dass nur starke moralische Grundsätze mich davon abhalten können, mit Vorsatz auf die Straße zu treten und den Leuten mit Bedacht die Hüte vom Kopf zu hauen - dann ist es höchste Zeit für mich, sobald ich kann, auf See zu kommen."
Wie es aussieht, geht es uns allen dreien ganz ähnlich - nur dass wir nicht wie Ismael unseren ganzen Lebensweg umbiegen, um fortan auf der "Pequot" einem weißen Wal hinterher zu jagen. Wir begnügen uns damit, ein klitzekeines Wochenende dem Alltag zu entkommen, in unseren klitzekleinen Booten über die Ostsee zu schippern, ein bisschen Wind der ganz großen Freiheit durch unsere Gemüter wehen und unsere Seelen durch die Sonne von Samsö wärmen zu lassen.
Der Termin war bereits im April verabredet, während unserer Tour nach Hooge. Als Ersatz für Jörg, der "kurz" nach Korsika musste, konnten wir Peter gewinnen, der immer gut ist für ein spontanes "Ich bin dabei!". Nun könnte man meinen, dass bei einem so langen Vorlauf alles bestens geplant und vorbereitet ist. Aber der nasse, nieslige Alltag hatte uns bis zum Schluss so fest im Griff, dass wir froh sein konnten, wenigstens unsere Ausrüstung und Verpflegung rechtzeitig zusammengesammelt zu bekommen. Außerdem wird Planung eh vollkommen überbewertet. Ein Kajak, ein Zelt, hinreichend Frischwasser, ein Schlafsack und etwas Zeit - was braucht man mehr, um eine anspruchsvolle Paddeltour zu unternehmen?
Die Wettervorhersage hat für das gesamte Wochenende sehr südliche und
ein wenig östliche Winde angekündigt, aber alles innerhalb eines zu
bewältigenden Rahmens. So müssen wir uns also nicht wie vor zwei Jahren ein neues Ziel suchen, sondern können die im Laufe der lockeren Abstimmung aufgekommene Option "Samsö" tatsächlich in Angriff nehmen. "100 Kilometer - drei Tage? Das kann man doch schaffen!" Trenk ist noch im "Was kostet die Welt?"- und "Wir sind schließlich starke Paddler!"-Modus als ich ihm am Donnerstag Abend die Komplett-Umrundung Samsös ausreden will. "Okay - wir fahren los und sehen, wie weit wir kommen.". Er wäre auch schon am Donnerstag Abend losgefahren, aber auch das hatten wir bereits als nicht "urlaubskompatibel" abgelehnt. So mache ich mich mit Peter am Freitag Morgen daran, unsere Navi-Apps dazu zu überreden, uns zu Trenks Domizil zu leiten. Das beginnt schon mal mit einer Auseinandersetzung mit der Navi-Stimme darüber, wie man am besten aus Kiel heraus findet. Wir machen der Dame im Gerät auf höfliche Art klar, dass wir uns hier besser auskennen und hoffen, dass sie uns diese Überheblichkeit nicht übel nimmt, wenn wir uns später auf uns unbekanntem Terrain befinden. Nach Passieren der Landesgrenze muss Peters App die Navigation übernehmen, denn die hat Offline-Karten zur Verfügung - und außerdem hat sie auch die angenehmere Stimme!
In Hov steht uns eine neue Mauer im Weg, die verhindert, dass wir bequem nahe am Strand parken können. Hier sollen neue Ferienhäuser gebaut werden, also müssen wir auf dem Parkplatz des Fähranlegers bleiben. Wir machen noch einen halbherzigen Versuch, die Abfahrtzeiten der Fähre von Samsö herauszubekommen, haben aber keinen wirklichen Erfolg. Das hätte man natürlich auch im Internet nachsehen können, aber Planung - das Thema hatten wir ja schon. Die großen Mengen angespülten Tangs und Seegrases stinken bestialisch, als wir unsere fertig gepackten Boote darüber tragen. Von unserem Ziel ist nicht das geringste zu sehen - die Sicht beträgt nur eine halbe Handvoll Kilometer. Weil heute der Tag mit dem schwächsten Wind sein soll und er durchgehend von Süden wehen wird, wollen wir erst einmal bis zum Leuchtturn Vesborg, ganz im Süden von Samsö fahren. Das sind etwa 24 Kilometer, danach sehen wir, wie weit Tagesform und -licht uns noch lassen.
Aufgrund meiner Rechenschwäche hatte ich im Auto noch behauptet, wir würden etwa drei Stunden für die Überfahrt benötigen. Als ich um kurz vor zwei auf dem Wasser unsere Ankunftszeit abschätze, muss ich erkennen, dass 24km bei 6km/h aber eher vier Stunden sind als drei. Das heißt, dass wir nicht vor halb sechs am Leuchtturm ankommen werden. Sonnenuntergang ist etwa halb sieben, da wird sich also nicht mehr viel abspielen, wenn wir einmal an Land sind. Noch liegen aber etliche Stunden weitgehend ereignisloses Paddeln gegen einen konstant wehenden Dreier-Wind vor uns. Wegen der schlechten Sicht sieht man nur blass-graues Wasser und blass-blauen Himmel um uns herum. Ich mache nach jeder vollen Stunde einen kurzen Halt und überprüfe auf dem GPS unser Fortkommen. Das ist meine erprobte Technik, um einen eigentlich viel zu großen Happen in kleinere, leichter verdauliche Stücke zu zerlegen. Fünf Minuten vor der letzten Pause passieren wir die einzige Tonne, der wir unterwegs begegnen, und meine Mitfahrer beschließen, dass diese Stunde fünf Minuten kürzer ist. Während wir antriebslos auf dem Wasser dümpelnd unsere Stullen mümmeln und etwas trinken, treibt uns der Wind emsig zu unserem Ausgangspunkt zurück. Dadurch, dass wir uns so dicht an der Tonne befinden, sieht man diesen frustrierenden Effekt leider besonders deutlich.
Als wir dicht an Kolby Kaas vorbeifahren, muss Trenk zur Erleichterung an den Strand. Wir verabreden, dass wir schon weiterfahren und nach einem geeigneten Platz für die Nacht Ausschau halten. Es hat etwas aufgeklart, die Sonne ist durch den trüben Himmel gebrochen und nach nur wenigen Kilometern fällt Peter auf, dass das Ufer hier wie ein prima Zeltplatz aussieht. Recht hat er, denn direkt oberhalb des Strands aus groben Kieseln liegt ein Stück Brachland, das alles bietet, was es zum Errichten einer Heimstatt braucht: ebenen, grasbedeckten Grund, Sicht- und Windschutz - und einen freien Blick aufs Meer!
Den Rest des Abends genießen wir die untergehende Sonne, die Stille, die Rouladen mit Spätzle und den aufgehenden Mond. Allerdings zeigen der lange Arm des Alltags und die nicht anstrengungsfreie Überfahrt bald ihre Wirkung: um halb Acht stellen meine Begleiter fest, dass es bereits stockduster und damit Zeit ist, ins Bett zu gehen! Ich liege noch eine Weile im offenen Zelteingang und schaue dem Halbmond dabei zu, wie er seine Bahn über das Firmament zieht und das Wasser dabei zum Funkeln bringt. Das Rauschen der Wellen gehört zur Stille, die durch nichts sonst gestört wird. Nur ab und zu tuckert eine Fähre vorbei.
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