Sonntag, 22. Mai 2022

Von der Kostbarkeit des Scheiterns

Acht Monate kein neuer Eintrag in meinem Paddeltagebuch! Das ist die längste Lücke, die es hier je gegeben hat. Wesentliche Ursache für diese Mangelerscheinung ist die Tatsache, dass ich in diesem Jahr eine Trainer-Ausbildung absolviere, für die ich gefühlt mindestens jedes zweite Wochenende unterwegs bin.

Jetzt ist aber gerade diese Ausbildung Grund und Anlass für einen neuen Eintrag in dieser Chronik! Nachdem ich in ihrem Rahmen mit zitternden Knien über die Weser gesuppt bin, in die geheimen Steuerschläge beim Einer-Kanadier eingeführt und beim Drachenboot-Paddeln derart gequält wurde, dass ich fast kotzen musste, nachdem ich bei winterlichen Temperaturen durch zahllose Bremer Seen geschwommen bin und den halben Wildwasserkanal von Hohenlimburg ausgetrunken habe, darf ich jetzt endlich mal richtig paddeln: auf einem Seekajak-Wochenende in Ostfriesland!

Natürlich ist der Anlauf wieder einmal zäh: wir sind diesmal noch gar nicht in Hamburg, da stehen wir schon in einem Stau! Unfall. Da musste unbedingt jemand mit ordentlich Schmackes einem LKW hinten rein fahren. Naja - ich habe mit Bettina, die ebenfalls diese Ausbildung macht, ja sowieso immer soviel zu besprechen, dass die Tour ohne Staus viel zu kurz wäre, um das alles abzuarbeiten. 

Immerhin ist der Beginn der Fahrtenplanung, die noch am heutigen Freitag stattfinden soll, von 18 auf 19 Uhr verlegt worden. So haben wir nach unserem Eintreffen noch eine halbe Stunde Zeit, unsere Zelte im strömenden Regen aufzubauen. Vor zwei Tagen beim Mittwochspaddeln war es noch 25 Grad warm und die Sonne schien. Auf 25 Grad kommt man heute nicht einmal mehr, wenn man die Temperaturen von Vor- und Nachmittag zusammenzählt. Dafür weht aber ein erfrischender Wind durch das überdachte Areal, unter das wir uns zurückgezogen haben, um einen Plan für den kommenden Tag zu schmieden.

Seekajak-Touren auf Tidengewässern - das ist für viele der Anwesenden ein eher neues Thema, das viele Fragen aufwirft, deren Antworten man erst einmal verdauen muss. Da ist von Zwölferregel die Rede, von Wattenhochs, von Priggen und Doppelpriggen, von Robben- und Vogelschutzgebieten. Und von Hoch- und Niedrigwasserzeiten, an die man sich halten muss, und die eigentlich immer so liegen, dass man viel zu früh aufstehen muss. Nach allerhand Geschätze, Gepeile und Gewürfle entsteht ein Plan, der sogar mit einer halbwegs versöhnlichen Startzeit daherkommt: um sieben Uhr fertig gepackt, umgezogen und ausgerüstet an der Rampe des Segelhafens aufschlagen!

Ich hatte gehofft, dass wir ordentlich Wind für unsere Tour abgekommen würden. Aber beim Beobachten der Vorhersage in den Tagen vorher kamen mir Zweifel, ob wir bei einem Wind von angesagten 9-11 Metern pro Sekunde auch tatsächlich in See stechen würden. Bei der Frage, mit welcher Windstärke wir für die morgige Tour rechnen müssen, ist meine Antwort: sechs! Elke nennt fünf Beaufort als Vorhersage. Das kann schlicht daran liegen, dass sie eben Beaufort als Maßeinheit für die Vorhersage in ihrer App eingestellt hat und nicht wie ich Meter pro Sekunde. Windstärke sechs fängt bei knapp über zehn Meter pro Sekunde an - und 9-11 liegt mehrheitlich im Bereich von fünf Beaufort. Und fünf Beaufort fängt bei 8 m/s an - wenn man die im Kopf hat, fühlt sich das auch ganz entspannt an. Aber es ist ein Riesenunterschied zu 11 m/s!

Ich bin froh über Elkes "Ball-flach-halten"-Taktik, denn das nimmt den Teilnehmern den Schrecken vor unserem Vorhaben. Ich erlaube mir immerhin noch die Anmerkung, dass es mörderanstrengend wird, denn ein Wind, der genau von der Seite kommt, ist unterm Strich Gegenwind, und eine Insel vom Ausmaße Baltrums ist leider nicht in der Lage, so etwas wie eine Abdeckungswirkung zu erzeugen.

Um fünf Uhr früh werde ich durch heftigen Regen geweckt. Wir müssen ja nicht die "große" Nummer schieben mit Zelt abbauen und alles in die Boote rödeln - wir machen nur eine Tagestour und kehren an unseren Ausgangsort zurück. Da kann ich noch eine halbe Stunde liegen bleiben und die Ruhe genießen.

Die Rampe im Hafen sieht halbwegs passabel aus - da habe ich schon Schlimmeres erlebt, aber sie ist im unteren Bereich schon arg rutschig. Es dauert eine gute Weile, bis wir alle Boote eingesetzt haben. Wir haben drei Gruppen a fünf bis sechs Personen gebildet und innerhalb der Gruppen Pärchen, die aufeinander acht geben. Sylvia passt auf mich auf. Die Gruppen sollen eigenständig navigieren und jede ihren Weg suchen. Elke will mit ihrer Gruppe vorausfahren, Falk, in dessen Gruppe ich bin, soll als letzter fahren. In jeder Gruppe sind zwei Personen mit Funkgerät, die jeweils ganz vorne bzw. hinten fahren sollen. Klingt wie'n Plan - was soll da schon schief gehen?

Nachdem unsere Gruppe vollzählig auf dem Wasser schwimmt und wir uns gegenseitig unserer Entschlossenheit versichert haben, paddeln wir den Hafenpriel hinaus - immer an den Priggen entlang. Der Wind geht dermaßen scharf, dass ich ziemliche Mühe aufbringen muss, das Boot innerhalb des Priels zu halten und nicht auf die Schlickkante in Lee geweht zu werden. Trotzdem schafft es unsere Gruppe, vergleichsweise dicht beieinander zu bleiben. Die Gruppe vor uns ist etwa 200 Meter voraus. Als ich mir ansehe, wie sie zurecht kommen, sehe ich, dass es keine Gruppe mehr gibt: da sind eine Handvoll Einzelpaddler so weit in der Gegend verweht worden, dass eine Kommunikation untereinander nicht mehr möglich ist. Es ist mir sofort klar, dass wir so auf keinen Fall so etwas wie eine Überfahrt wagen können. Die dritte Gruppe ist dichter beisammen, hat aber ebenfalls mehr als deutliche Schwierigkeiten, die Richtung zu halten. Als wir in den Bereich der Dalben kommen, wo wir eigentlich einen deutlichen Schwenk nach Westen machen müssten, verweht es Tina aus unserem Pulk so nachhaltig, dass sie ihr Boot nicht mehr eingefangen bekommt. Falk eilt ihr zu Hilfe.

Elke hat in ihrer Gruppe mittlerweile den Rückzug ins Hafenbecken verordnet, wie ich über Funk mithöre. Sylvia, die heute ihre erste Nordseetour macht und  auf mich aufpassen soll, hat ebenfalls für sich entschieden, dass die Richtung zum Hafen die einzige ist, in die sie noch fahren möchte. Ich bin kurz etwas hin und her gerissen, weil ich nicht sicher weiß, ob Falk alleine damit klar kommt, Tina wieder einzufangen. Aber ich bin Sylvias Buddy und muss mich zuerst um sie kümmern. Ich teile Falk kurz über Funk mit, dass ich sie in den Hafen geleite.

Kurz vor dem Hafen sind die zurückkehrenden Truppen so nahe beieinander, dass ich Sylvia in die Obhut der anderen übergebe und mich auf den Rückweg zu Falk mache. Der hat Tina inzwischen in Schlepp genommen, wobei sie mit Gisela zusammen ein stabiles Päckchen bildet. Ich biete an, mich als Schleppunterstützung einzuklinken, aber Falk meint, dass ich vermutlich als psychologische Unterstützung am Päckchen eine größere Hilfe sei. Die beiden Mädels sind aber eigentlich ganz guten Mutes, so dass ich auch hier nicht wirklich gebraucht werde. Immerhin kann ich wieder nach vorne zu Falk fahren und ihm berichten, dass es seiner Fracht gut geht, denn er kann ja nicht sehen, wie es hinter ihm aussieht.

Ich ziehe innerlich den Hut vor Falk, denn ein Zweierpack gegen einen Wind zu schleppen, vor dem große Teile der Gruppe sich komplett ergeben haben, ist keine leichte und auch keine einfache Aufgabe! Er schafft es "mühelos", so dicht in Luv an den Priggen entlang zu fahren, dass sein Schlepp trotz des dwarsen Wind nicht im Schlick auf der anderen Prielseite stecken bleibt.

Nach wenigen Minuten sind alle glücklich im Hafenbecken vereint. Das waren etwa tausend Meter hin und zurück - und damit tatsächlich die kürzeste Nordseetour, die ich je gemacht habe!

Im Hafen sammeln wir uns - äußerlich und innerlich. Niemand ist nachhaltig geknickt - die Sache war einfach so sonnenklar für die ganze Gruppe nicht zu schaffen, dass sich niemand als Auslöser für den Rückzug begreift. Wir haben mit traumwandlerischer Sicherheit den Zeitpunkt erwischt, an dem es an diesem Tag am stärksten pustet: sechs bis sieben Beaufort - Böen acht! 

Es werden kurz ein paar Möglichkeiten diskutiert, wie man den noch jungen Tag gewinnbringend gestalten kann. Falk fragt, ob jemand bereit wäre, einen zweiten Versuch zu wagen. Es recken sich eine ganze Reihe Finger in die Höhe und nachdem Elke überzeugt worden ist, dass sie Bettina nicht als einzige Frau mitfahren lassen kann, sind wir sieben Paddler, die Baltrum dem Wind abtrotzen wollen.

Es geht ausdrücklich um einen zweiten Versuch - ob der gelingt, ist keineswegs gewiss. Bis zu den Dalben, unserem ersten Umkehrpunkt, geht es ganz passabel. Falk befragt jeden einzelnen Teilnehmer sehr gründlich nach seiner Befindlichkeit und Einschätzung. Danach ist die nächste grüne Tonne unser Ziel. Dort angekommen, erneuert Falk das Stimmungsbild, ob immer noch alle überzeugt sind, dass wir zur Insel wollen. Das geht noch ein paar Mal so, so dass keiner das Gefühl hat, er müsste über seine Grenzen gehen.

Die Richtung zu halten ist alles andere als einfach. Man erkennt auf dem nebenstehenden Trackausschnitt, dass unsere Spur arg hin und her zackt. Das liegt nicht an der Ungenauigkeit der GPS-Aufzeichnung, sondern genau so sind wir gefahren: zum einen müssen wir unsere Richtung immer wieder dem Wind abringen, zum anderen müssen wir ständig darauf achten, als Gruppe zusammen zu bleiben, weil irgend jemand immer gerade aus dem Kurs geweht wird.

Das Stück unserer Spur kurz vor der rot-grünen Tonne ist besonders interessant. Zuerst werden wir aus unserem anfänglich nordwestlich weisenden Kurs ziemlich genau nach Norden gedrängt und dann um fast neunzig Grad gedreht fast genau nach Westen. Unser gesteuerter Kurs wies die ganze Zeit über mehr oder minder in dieselbe Richtung - nach Nordwest. Die Stelle ist genau am Eingang zum wattseitigen Priel, der südlich an Baltrum vorbei führt. Hier geht einfach eine turbulente Strömung, die uns die Fahrtrichtung diktiert - und auch die Geschwindigkeit! Wir sind mit lausigen zwei Stundenkilometern unterwegs und machen kaum Boden gut gegen die seitlich liegende Tonne, die einfach auf uns zukommt, obwohl unser Bug deutlich an ihr vorbei weist. Tidengewässer eben!

Die weiter links liegende Spur von unserem Rückweg, sieht dagegen deutlich entspannter aus - da sind wir quasi ohne Anstrengung mit acht bis neun Stundenkilometern unterwegs!

Schließlich erreichen wir die Ostspitze von Baltrum und gehen neben der Tonne A7 an Land - nach knapp mehr als sieben Kilometern, für die wir deutlich über zwei Stunden gebraucht haben! Da gerade Niedrigwasser ist und wir über die Insel spazieren wollen, müssen wir unsere Boote ein gutes Stück auf den Sand tragen, damit wir sie noch vorfinden, wenn wir zurückkommen.  Der Sand kommt uns mit Macht entgegen und formt seltsame Strukturen am Boden. Die anderen gehen nach Baltrum-Downtown - ich schlage mich irgendwo auf halbem Wege bei einer Schutzhütte in die Dünen, döse in der Sonne und halte Zwiesprache mit einer Bachstelze, die in der Hütte brütet.

Ich sitze noch eine ganze Weile bei den Booten am Strand und lasse mich vom Sand einwehen, während ich auf die anderen warte. Ich genieße die wunderbare Landschaft und die entrückte Stimmung. Ich war das letzte Mal vor 20 Jahren hier und meine Bilder im Kopf sind natürlich leidlich verblasst - so schön hatte ich es gar nicht in Erinnerung. Die Tatsache, dass die Inseln hier nur fünf Kilometer vom Festland entfernt sind und man auf ihrer See-Seite sofort ganz und wirklich draußen ist, hatte ich komplett verdrängt. Allein, dass sie soweit vom Zentrum der Welt entfernt liegen, ist ein echtes Übel. Für ein simples Wochenende sind sie für mich quasi nicht erreichbar.

Die Rücktour ist mehr als entspannt. Wir werden von Strom und Wind praktisch nach Hause geschoben und brauchen nicht einmal eine Stunde. Als wir bei Hochwasser direkt am Strand anlanden, sind die anderen gerade mit dem Programmpunkt "Baden" beschäftigt. Das Wasser ist zwar frisch - aber deutlich wärmer als aktuell in der Ostsee. Ich schätze die Temperatur auf 16 Grad.

Als wir auf dem Campingplatz gemeinsam unser Abendessen einnehmen, hat der Wind schon deutlich nachgelassen. Das soll in eine Flaute am morgigen Sonntag münden!

Das Gute an der Tide ist ja, dass sie jeden Tag zirka eine Stunde nach hinten rutscht. So ist der Start am Sonntag noch entspannter. Die Verwaltung des Camping-Platzes ist leider alles andere als entspannt. Das macht die Formalien mit dem Auschecken und Umparken der Autos etwas kompliziert - aber wir bekommen das hin.

Die Umstände sind heute das genaue Gegenteil von gestern: absolute Flaute und Sonnenschein von Anbeginn an. Wir agieren wieder in drei Gruppen, wobei heute jeweils eine Teilnehmerin die Führung übernehmen muss. Das ist aber bei den Bedingungen auch nicht sonderlich anspruchsvoll, denn die Sicht ist so gut, dass man den gesamten Streckenverlauf inklusive aller anzusteuernden Tonnen schon von Anfang an sehen kann. So kommen heute doch noch alle Teilnehmer des Kurses in den Genuss, eine erfolgreiche Überfahrt zu meistern. Für einige ist es tatsächlich die erste Nordseetour ihres Lebens - aber es wird hoffentlich nicht ihre letzte bleiben.

Ich habe beim Wildwasserwochenende behauptet. dass es mir nichts ausmache zu scheitern. Das klingt gut, ist aber natürlich nicht ganz richtig. Immerhin kann ich mir zugute halten, dass ich mit Scheitern ganz gut umgehen kann und es mich nicht zerfrisst. Aber im Grunde versuche ich doch, Scheitern eher zu vermeiden. Dabei ist Scheitern doch so kostbar!

Ich paddele schon so lange und habe schon so viele unterschiedliche und fordernde Bedingungen erlebt, dass es mittlerweile schon schwierig ist, etwas dazu zu lernen. Wir hatten hier starken Wind, aber ich bin schon bei stärkeren Winden gepaddelt. Wir sind bei der ersten Überfahrt zirka sieben Kilometer gegen den Wind gepaddelt - auch gegen so einen Wind ist das eine vergleichsweise kurze Strecke in meinem Fahrtenbuch. Das Revier hier ist ausgesprochen geschützt - es gibt quasi keine Wellen, die Probleme bereiten könnten, und die Strömungen sind ausgesprochen überschaubar. Es hat zwar einen Heidenspaß gemacht - aber wirklich Neues gelernt habe ich dadurch nicht.

Neues habe ich an ganz anderer Stelle gelernt! Hätte ich in der Verantwortung gestanden, über die Durchführung der Tour mit der Gruppe zu entscheiden, hätte ich sie vermutlich nicht gemacht, weil mir ziemlich klar war, dass zu viele Mitglieder der Gruppe damit überfordert gewesen wären. Letztlich hat unser abgebrochener Startversuch ja auch genau das gezeigt.

Hätte man sich über das Risiko eines Versuches Gedanken gemacht, wäre deutlich klar gewesen, dass nicht wirklich etwas passieren kann: der Wind blies aus Westen und hätte uns maximal auf die trocken gefallenen Wattflächen östlich des Fahrwassers geweht. Man hätte in der allergrößten Not zu Fuß an Land latschen können und ein verschlicktes Boot und verschlickte Füße riskiert.

Was wir durch unseren Versuch gewonnen haben, ist ein unvergessliches Erlebnis, wie sich die Windstärken sechs bis acht auf dem Wasser anfühlen und dass man keine Chance hat, seinen eigenen Willen gegen sie durchzusetzen. Wie kostbar ist es, so eine Gelegenheit wahrzunehmen! Und wie arm ist dagegen die Wirkung meiner Bemerkung: "Das wird aber mörderanstrengend!"

Genau hier hat mein Dazulernen stattgefunden: wenn eine Unternehmung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit scheitern wird, ist lediglich das Risiko entscheidend, ob die Unternehmung zu einem Himmelfahrtskommando wird, oder einem den Zugang zur im Scheitern vorborgenen Kostbarkeit ermöglicht. Wenn wie hier ein erkennbar geringes Risiko besteht, gilt: "Manchmal muss man eben etwas einfach ausprobieren!" Danke, Elke!

GPS-Tracks hier.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen