Montag, 29. August 2022

Notlösung Schleimünde

Seit Jahren haust mein Kollege Rüdiger auf Pellworm - und ich wollte ihn schon immer mal besuchen. Nachdem ich meine Termine auf ein überschaubares Maß abgebaggert hatte, konnte ich mich daran machen, einen Besuch bei ihm zu planen. Dabei musste ich lernen, dass man Pellworm bequem eigentlich nur von Westen kommend mit dem auflaufenden Wasser erreichen und nur nach Westen fahrend mit dem ablaufenden Wasser verlassen kann. In der Summe macht es diese Insel für Kajakfahrer zu einem blinden Fleck auf der Seekarte. Letztlich ist auch der aufwendig angelegte Tiefwasseranleger nur Ausdruck dieses Dilemmas, dass die Eingeborenen gerne eine verlässliche Verbindung mit dem nordfriesischen Kontinent schaffen wollten.

Natürlich haben wir als gewiefte Navigatoren die quasi Nicht-Erreichbar- bzw. Verlassbarkeit der Insel nicht als Hürde gesehen sondern als Ansporn, unseren nautischen Intellekt zu nutzen, um Gezeiten, Prielen, Schutzzonen und sonstigen widrigen Umständen einen Weg abzutrotzen, meinen Kollegen dennoch zu besuchen. Es ist auch ein solider Plan dabei herausgekommen, der über Hooge und das Rummelloch-Ost zum Schwimmsteg des Pellwormer Segelhafens geführt hätte. Hätte! Denn wie üblich, wenn ich im August eine Paddeltour plane, ballt sich das Wetter immer mit aller Kraft zusammen und macht mir einen Strich durch die Rechnung: Freitag Nachmittag bis Sonntag durchgängig sechs Beaufort aus Nordnordwest! Für die Hinfahrt nach Hooge und die Überfahrt nach Pellworm wäre das kein Hinderungsgrund - aber am Sonntag über zwanzig Kilometer gegen so einen Wind zurück nach Schlüttsiel zu keulen - das entsprach nicht unserem Wunsch nach einem entspannten Wochenende!

Also muss eine Alternative her. Dänische Südsee wird ja immer gern genommen, aber dafür war die Windvorhersage schlicht gesagt: widrig. Zur Not, wenn gar nichts anderes geht, würde ich auch nach Schleimünde fahren. Hauptsache raus! Ein etwas detaillierterer Blick auf die Wetter- und Windvorhersage zeigt aber ein überaus versöhnliches Bild: Am Freitag soll leichter Ostwind herrschen, den wir mit etwas Glück für unsere Segel benutzen könnten und am Sonntag dann durchaus frischer Westwind, mit dem wir wieder zurücksegeln könnten! Dazwischen bietet sich ein Urlaubstag in der näheren Umgebung von Schleimünde an. Einziges Haar in der Suppe: ein bißchen Regen am Freitag und Samstag und eine leichte Gewitterneigung am Freitag, die sich aber erst am späten Nachmittag und eher weiter südlich entfalten soll.

Wir lassen uns nach Strande bringen und gehen am steinigen Strand vor dem Kiosk ins Wasser. Es herrscht überraschender Weise Seenebel mit einer Sicht von wenigen Kilometern. Um halb eins starten wir zunächst noch ohne Segel gegen den Wind. Aber gleich nachdem wir die letzte Mole am Bülker Leuchtturm passiert haben, bringen wir unsere kleinen weißen Helferlein an den Start. Das geht zum Glück vollkommen problemlos während der Fahrt. Man muss nur den Zeising lösen, mit dem das Segel an Deck gelascht ist, an der Schot ziehen, die den Mast aufrichtet und ihm mit der anderen Hand einen kleinen Schubs nach oben geben. Der deutliche Ruck, der durch das Boot geht, sobald der Wind ins Segel gefasst hat, ist immer für einen kleinen Schreckmoment gut!

Ab geht die wilde Post! Das gegenüberliegende Ufer ist über fünfzehn Kilometer entfernt und nicht zu sehen, auch wenn der Seenebel sich deutlich gelichtet hat. Aber ich habe wieder mit meiner bewährten Methode der Kursermittlung ("deutlich nördlicher als 45 Grad von West") einen Kompasskurs von 330 Grad festgelegt. Die Segel ziehen uns flott durch das traumhaft grüne, traumhaft warme Wasser (mein Baby-Bade-Thermometer hat allerdings nur 20 Grad gemeldet!). Die Wellen sind lang und gutmütig und von einer Größe, die immer wieder wunderbare Surfs ermöglicht. Ein besonders langer und flotter katapultiert mich über gefühlte zehn Sekunden auf gute fünfzehn Stundenkilometer!

Unser Kurs würde perfekt stimmen und uns eine Kollision mit dem Schießgebiet vor Schwansen ersparen - aber nach wenig mehr als einer Stunde Fahrt vernehmen wir - mehr mit den Zwerchfell als mit den Ohren - ein deutliches Gewittergrummeln! Das ist so ziemlich der ungünstigste Ort, den man sich für ein Gewitter aussuchen kann: eine erreichbare Küste ist in jeder Richtung über eine Stunde entfernt! Wir machen einen deutlichen Knick nach Westen in Richtung Campingplatz Booknis, den man mittlerweile schemenhaft erkennen kann. Das ist für uns das am schnellsten erreichbare Festland. Nach über einer Stunde sind wir soweit unter Land, dass wir wieder nach Norden schwenken und uns fortan dreihundert Meter vom Ufer entfernt unserem Ziel nähern.

Irgendwann sind Gebäude-ähnliche Strukturen in der Ferne zu erkennen, und wir rätseln, ob das vielleicht das Lotsenhaus auf der Öhe ist. Da sind auch noch einige andere Dinge zu erkennen, denen wir nicht auf Anhieb eine eindeutige Interpretation zuordnen können. Wir einigen uns auf die Taktik, näher ran zu fahren und dann zu entscheiden, was das jeweils sein soll. Fakt ist, dass die Hafeneinfahrt von Olpenitz so weit nach Osten hinausragt, dass man, aus unserer Richtung kommend, Schleimünde noch gar nicht sehen kann. Der Leuchtturm ist aus dieser Richtung nur über Land zu sehen - in einer Baulücke des Ferienortes.

Nach ziemlich genau vier Stunden Fahrt schlagen wir im Hafenbecken von Schleimünde am Strand an. Das sind bei über 31 gefahrenen Kilometern ziemlich genau 8 Stundenkilometer - mit vollbeladenen Booten keine schlechte Leistung! Den Segeln sei Dank! Der Wind blies übrigens die gesamte Zeit mit ziemlich genau sieben bis acht Metern pro Sekunde genau aus Ost - das war deutlich mehr als vorhergesagt - zum Glück!

Ein bisschen überrascht es uns, dass keine anderen Paddler zu sehen sind. Lediglich ein Vater mit seiner ca. dreijährigen Tochter hat ein Zelt auf der Wiese stehen. Sie sind mit dem offenen Holzboot "Fischerei auf Sicht" gekommen. In der Giftbude genehmigen wir uns eine dem Tag angemessene Stärkung: Jörg nimmt Matjes mit Kartoffelsalat, ich Schnitzel mit Pommes - veganfrei!

Die Wettervorhersage für heute hatte neben dem ausgebliebenen Gewitter einiges an Regen im Köcher gehabt. Insgesamt sind über Schleimünde etwa sieben Tropfen niedergegangen - der Rest vermutlich in Pinneberg, wo es die halbe Stadt geflutet hat.

Für die Nacht ist großflächig intensives Gewitter vorhergesagt - der Himmel hat allerdings nichts zu bieten, was darauf hin deuten könnte. Ich liege noch lange wach im Zelt und lausche dem auffrischenden Wind. Mitten in der Nacht spanne ich noch mal das Zelt nach, wobei ich am Horizont tatsächlich Wetterleuchten sehe. Etwas armselig für die dramatische Warnung des Wetterdienstes. In Ungarn haben sie vergangenen Montag die Chefin des Wetterdienstes entlassen, weil sie ein Gewitter für den Nationalfeiertag vorhergesagt hatte, das dann doch nicht gekommen ist. Vielleicht zittern sie beim DWD schon.

Mit den friedenstiftenden gelben Frömsen in den Ohren schaffe ich es, bis halb neun durchzuschlafen. Die Welt, in die ich dann trete, ist noch frisch, so dass ich mir erstmalig die mitgeführte Schlupfjacke übertue. Zum Frühstück soll es Rührei mit Speck geben - wir haben extra bei Aldi noch vier Eier gekauft! Aber wegen der arg unsymetrischen Mengenverhältnisse werden daraus gebratene Speckwürfel, die Spuren von Ei enthalten können. Zusammen mit dem obligaten Müsli schafft das eine solide Grundlage für die Herausforderungen des Tages. Es soll nach Kappeln gehen - Fischbrötchen abgreifen.

Als ich zum Hafenmeister gehe, um für die zweite Nacht zu bezahlen, sind die kleinen zuckersüßen Geschäftsmädels schon bei der Arbeit: die eine bemalt - vollkommen entrückt und in sich versunken - Steine, die andere blickt versonnen in die Gegend und genießt vorwiegend die Nähe ihrer großen Schwester. Ich kann ein schönes handbemaltes Unikat zu einem fairen Preis erstehen. Sie sind zweisprachig unterwegs: auf der einen Seite ihres Pappaufstellers steht ihr Angebot auf deutsch, auf der anderen Seite auf dänisch, so erreicht man ein größeres Publikum.

Es sind nur überraschend kurze sieben Kilometer bis Kappeln. Wir haben uns im Vorfeld etwas Gedanken gemacht, wo wir denn an Land gehen und die Boote unbeaufsichtigt liegen lassen könnten. Vollkommen unnötig, denn am Ort angekommen folgen wir unauffällig dem Ruderboot "Bierchen", das am Steg des Kappelner Rudervereins anlegt. Hier können wir die Boote ruhigen Herzens liegen lassen und uns stadtfein anziehen. Neben dem Pflichtpunkt Fischbrötchen essen, steht noch Bratkartoffeln kaufen auf dem Programm, denn meine Packung liegt noch im heimischen Kühlschrank. Unser schlauer Freund Google hilft uns, ein geeignetes Lebensmittelgeschäft zu finden. Dort gibt es sogar Rotwein, der Jörg so bettelnd anschaut, dass er ihn mitnehmen muss. Nach den Anstrengungen des Pflichtprogrammes ist Kaffee und Kuchen fällig. Heimbs-Kaffee, über den nix drüber geht, und Kuchen mit Sahne!

Für die Rücktour leisten uns die Segel wieder wertvolle Dienste, denn der Wind hat ja - wie vorhergesagt - um 180 Grad gedreht. Während unserer Abwesenheit hat eine wundersame Besiedelung der Öhe stattgefunden: die Jugendgruppe des Arniser Segelklubs ist mit 19 Kindern und Jugendlichen eingefallen und die haben ihre Wurfzelte aufgebaut. Dazu kommen noch ca. vier unterschiedliche Gruppen von Paddlern sowie ein wunderschönes geklinkertes Wikingerboot mit Mannschaft. Die Zeltwiese ist gut belegt, aber es ist längst nicht so gedrängt wie im Segelhafen, wo die Boote schon in zwei Reihen hintereinander und sogar außen an der Hafenmauer festgemacht haben.

Abends genießen wir wieder das große Hafenkino: während man am Tisch vor der Giftbude sein Abendessen oder -getränk zu sich nimmt, kann man herrlich dem Treiben vor und im Hafen zusehen. Geglückten Anlegemanövern und misslungenen, dem Suchen der einlaufenden Segelyachten nach freien Liegeplätzen, den unterschiedlichen Umgang mit Rollfocks oder einfach vorbeiflanierende Menschen.

Für die Nacht war kein Regen vorhergesagt, aber der Himmel war sternenklar. Trotz des stetigen Windes, der die ganze Nacht hindurch geweht hat, sind die Zelte am Morgen ziemlich nass. Wir sind heute früher am Start, denn es gibt etwas zu erledigen: die Heimfahrt will bewältigt sein. Auch die anderen Paddler und die Jugendgruppe wollen zurück, und so herrscht eine rege Geschäftigkeit auf dem Gelände. Kurz nach zehn haben wir unsere Kajaks sorgfältig aufgeriggt und sind startklar. Während ich an der Hafenausfahrt warte, muss Jörg feststellen, dass man alleine wenig bewirken kann, wenn am Rigg etwas nicht stimmt. Er muss noch einmal zurückfahren, weil sich sein Segel unerlaubt um den Mast gedreht hatte.

Ich setze mein Segel erst nach dem Ende der Mole und es entwickelt sofort einen spürbaren Zug. Wir wollen erst einmal deutlich südlicher fahren, als der direkte Weg nach Bülk erfordern würde. So gewinnen wir etwas Höhe gegenüber dem Wind, und wir vermeiden, dass wir wie beim letzten Mal quer durch das Schießgebiet fahren. Die mit uns fahrenden Segelyachten sind kaum schneller als wir, gegenüber einer vorausfahrenden gewinnen wir sogar Raum. Wir hätten schon früher einen Schwenk nach Osten machen können, aber den Triumpf, diese Yacht zu überholen, will ich mir unbedingt gönnen!

Danach geht es mit einem Kompasskurs von 150 Grad genau auf Bülk zu. Der Wind kommt fast genau aus Westen mit ein paar Grad Nord im Köcher. Dadurch entfalten unsere Segel eine gute Unterstützung. Die Navigationsmarken Ehrenmal von Laboe und Kieler Leuchtturm versuchen wieder, uns durch ihre Lage zu verwirren. Aber wir sind im Laufe der Zeit schlauer (oder sollte ich sagen: noch gewiefter?) geworden. Nach ziemlich genau drei Stunden gehen wir unter dem Bülker Leuchtturm an den Strand. Das waren 27 Kilometer mit über achteinhalb Stundenkilometern im Schnitt - das ist ohne Segel mit unseren Booten kaum möglich.

Zwei Yachten im Rennen gegeneinander...
Wir hatten verabredet, dass wir in Bülk entscheiden, ob wir uns hier abholen lassen oder den Rest der Strecke bis zum Klub auch noch auf eigenem Kiel zurücklegen wollen. Alle Beteiligten sind der Meinung, dass da noch genug Zeit und Energie vorhanden ist, um die Sache zu einem runden Ende zu bringen. Und obwohl unser Kurs mit dem Einlaufen in die Förde immer weiter nach rechts dreht, so dass der Wind am Ende sogar eine Frontal-Komponente hat, erzeugen die Segel immer noch eine spürbaren Zug. Das hätte ich nie geglaubt, wenn mir das jemand erzählt hätte.

Was anfänglich nur als Notlösung gestartet ist, hat sich zu einem bezaubernden Wochenende entwickelt, bei dem das Wetter die Vorhersage im besten Sinne Lügen gestraft und uns mit optimalem Wind eine unvergessliche Tour beschert hat! Naja - der Wind hätte gerne etwas stärker sein können - aber man will ja nicht meckern.

Tourendaten hier.

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