Dienstag, 11. Oktober 2011

Lektionen (2/2)

Der Muskelkater klingt langsam ab. Aber andere Eindrücke sind bleibend im Gedächtnis verankert. Da waren eine ganze Menge Dinge, die ich gelernt habe und die mich weiterbringen können - wenn ich die Lehren aus ihnen beherzige.

Zuerst die simple Tatsache, dass eine einzige Nacht und ein Vormittag mit Wind der Stärke sechs aus der richtigen Richtung auf der Ostsee Verhältnisse erzeugen, die jenseits des Bereiches liegen, den ich souverän handhaben kann. Unsere anfängliche leichte Enttäuschung, dass niemand mitkommen wollte, war eine völlige Fehleinschätzung der herrschenden Bedingungen. Ob die anderen die Lage kompetenter eingeschätzt, keine Zeit oder keine Lust hatten, ist einerlei - es war am Ende ein glücklicher Umstand, dass wir für niemand sonst verantwortlich waren.

Das zweite Mal verschätzten wir uns, als wir am Strand standen und auf die hereinrollenden Brecher sahen. Sie erschienen uns zwar reizvoll, aber wir hätten uns größere gewünscht. Ich habe vor St.-Peter-Ording beileibe größere Wellen gesehen und Jörg auf Korsika sowieso, aber lange, regelmäßige Wellen, die weit übers offene Meer hereinrollen, sind etwas anderes als durch Steinmolen und Flachs gezwungene, relativ kurze Ostseewellen. Ich hätte erwartet, dass ich nach in einiger Entfernung vom Ufer ein regelmäßiges Muster mit flacheren Wellen und runderen Kämmen antreffen würde. Stattdessen wuchs die Wellenhöhe mit der Entfernung vom Ufer an, sie waren auch in einigen hundert Metern vom Strand immer noch so steil, dass sie sich ständig brachen - und regelmäßig würde man das Muster eher nicht nennen. Ich habe immer, wenn ich wieder am Strand stand, nach den Wellen draußen gesehen - und auch mit dem Wissen des Dortgewesenen war es von hier aus nicht zu erkennen, dass die Wellen dort dermaßen hoch aufliefen.

Unser grundlegendes Handwerk verstehen wir gut: gegen die Brecher hinauszufahren, in ihnen zu wenden, sie quer zu nehmen und mit ihnen im Nacken (im wahrsten Sinne des Wortes!) gen Strand zu surfen, beherrschen wir mit Verlässlichkeit. Das sind alles Dinge, die wir häufig praktizieren, wenn auch nicht unter ganz so extremen Bedingungen. Unsere Defizite zeigen sich, wenn es an Dinge geht, bei denen uns ganz schlicht die Gelegenheit zur Übung fehlt.

Bei mir ist das auf jeden Fall das Rollen in wirklich rauschenden Wellen. So sicher und selbstverständlich ich in übersichtlichen Bedingungen rollen kann, hier hat sich gezeigt, dass es eine andere Welt ist, in braunem, sand- und luftdurchsetztem Wasser zu rollen, in dem die Oberfläche nicht nur nicht zu erkennen ist, sondern wo es sie nicht einmal gibt. Denn wo eben noch die Grenzfläche zur geliebten Luft war, rollt nun schon wieder ein einen Meter hoher Wellenberg drüber. Rollt man zur "falschen" Seite hoch, hat man wenig Chancen, aufrecht zu bleiben, weil die anstürmenden Seen einen wieder zurück in die Suppe drücken. Zu entscheiden, wo die "richtige" Seite ist, nachdem man eben noch um alle denkbaren Achsen gedreht und verwirbelt worden ist, ist kein leichtes Unterfangen. Mein mehrfaches Fehlen in dieser Disziplin zeigt, dass es nicht gut möglich ist, diesen Anforderungen durch Üben "in der Halle" gerecht zu werden - auch wenn ich dort mit einer Hand, mit links und mit halbem Paddel rollen kann. Wenn ich Frust darüber spüre, dann nicht, weil ich es nicht geschafft habe, sondern weil ich es so gerne öfter üben möchte und leider so wenig Gelegenheit dazu habe. Jörg ist mir mit seiner Wildwassererfahrung da deutlich voraus. Das Bewussstsein, wie sehr ich hier hinterherhinke, was für eine große Lücke bei mir noch klafft, lässt in mir die die grimmige Entschlossenheit wachsen, intensiver nach Gelegenheiten zum Übung Ausschau zu halten und mich in die Fluten zu stürzen.

Eine gemeinsame Schwachstelle von Jörg und mir ist der Umgang mit Malaisen unter diesen Bedingungen. Nachdem ich relativ weit draußen ausgestiegen bin, war ich vollkommen darauf fixiert, mich selbst zu retten. Ich habe unmittelbar nach der Steinmole Ausschau gehalten, um die Gefahr des Draufgespültwerdens abzuschätzen. Solange sie bestand, wollte ich nichts unternehmen, um wieder ins Boot zu kommen. Dabei hätte durchaus eine realistische Chance bestanden, dass ich mit Jörgs Hilfe wieder reingekommen wäre, bevor es mich auf den Felsen zerlegt hätte. Diese Fixiertheit auf mich selbst mag aus zwei Dingen herrühren: dass ich häufig alleine unterwegs bin und ich mich auf keine Hilfe verlassen kann und - und das halte ich für bedeutender - dass ich meistens als "Fähnleinführer" agiere, der für die Situation verantwortlich ist. Ich habe in Angelsey gelernt, wie man mit präkären Situationen in der Nähe von Felsen umgeht. Aber ich habe diese Techniken nur für die Rolle als "Retter" verinnerlicht, nicht für die Rolle als "Opfer".

Dir richtige Reaktion wäre gewesen, dass Jörg mich mit seinem Cowtail aus der Gefahrenzone herauszieht und wir dann geeignete Maßnahmen durchführen. Diesem Vorgehen standen drei Dinge im Weg: Jörg bekam seinen Cowtail nicht schnell genug heraus und ich war nicht auf die Opferrolle eingestellt. Der dritte widrige Umstand war die Tatsache, dass man außerhalb seines Bootes im Wasser einen erklecklichen Teil seiner geistigen Beweglichkeit einbüßt: In dieser unerwarteten Lage denkt man nicht mehr klar und nüchtern, sondern ist schlicht gesagt leicht gelähmt. Daher sollte der in "Normallage" befindliche Paddler auf jeden Fall das Kommando übernehmen und das Vorgehen bestimmen. Dazu hätte aber das Verhältnis zwischen Jörg und mir, das normalerweise durch Absprache und Einigung geprägt ist, in dieser Situation eine vollkommen andere Färbung bekommen müssen. Das ist nicht einfach und so sind wir bei unserem alten Muster geblieben und haben über die Möglichkeiten geredet und meine Meinung hatte das gleiche Gewicht wie Jörgs. Das ist wie mit den wirbelnden Wellen: wenn man nie in ihnen übt, wird man von ihnen überrascht und überfordert. Ich brenne darauf, Rettungsübungen unter wirklich rettungswürdigen Umständen zu machen! Wär aber schon schön, wenn das Wasser auch wenigstens ein bisschen warm wäre!

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