Montag, 28. Mai 2012

Manchmal kommt es anders...

Dem Heiligen Geist sei Dank! Gäbe es ihn und den dazugehörenden Pfingstmontag nicht, hätten wir am Freitag Nachmitag los gemusst. Am vergangenen Montag hatte ich das Einsteigerpaddeln geleitet, am Dienstag hurtig die wichtigsten Dinge gepackt, am Mittwoch Seminar "Kinderschutz", am Donnerstag Vorstandssitzung, am Freitag direkt von der Arbeit los. Wie hätte das gehen sollen? Vermutlich so, dass ich am Deich stehend festgestellt hätte, dass ich mein Paddel, mein Boot, meine zweite Unterhose oder ähnlich entscheidende Dinge in der Hektik vergessen habe.

So aber können wir einfach einen Tag später losfahren, am Freitag noch die letzten und am Samstag die allerletzten Dinge rauskramen und einpacken und dann am Nachmittag in aller Herrgottsruhe gen Westen fahren. Die Tide steht günstig, die Sonne lange am Himmel und der Wind auf unser Ziel! In einer ruhigen Abendstimmung packen wir unsere Habseligkeiten im Hafen von Schlüttsiel in unsere Boote und machen uns auf den Weg in eine andere Welt.

Peter merkt gleich nach ein paar Minuten, dass er sein Boot vertrimmt hat. Aber die Bedingungen sind gnädig, so dass er das nicht optimale Verhalten vorerst erträgt. Sollte es rauher werden, können wir immernoch irgendwo auf Langeness an Land gehen und den Trim verbessern.

Wir haben uns bewusst auf die späte Hochwasserwelle gesetzt, um uns von ihr hinaus in die nordfriesische Halligwelt tragen zu lassen. Wir hätten sogar gerne noch einen späteren Zeitpunkt akzeptiert, der eine Fahrt in die Nacht hinein bedeutet hätte. So fahren wir immerhin in die Dämmerung hinein und werden unser heutiges Ziel, den Kniepsand, erst deutlich nach Sonnenuntergang erreichen. Es ist still um ums, keine anderen Paddler, keine Segler, keine Frachter, keine Fischer - nur ab und an lugt ein Seehund aus dem erstaunlich warmen Wasser. Einer taucht verträumt keine fünf Meter neben mir  bis zur Brust aus dem Wasser, macht aber so erschrocken kehrt, dass er dabei fast gänzlich aus dem Wasser springt und mit einem lauten Platsch hektisch in vermeintlich geschütztere Gefilde abtaucht. Natürlich ist meine Digitalkamera nicht schnell genug mit dem Auslösen, so dass ich nur noch das Loch fotografiere, das er in die Wasseroberfläche gerissen hat.

Wir fahren durch das Langenessfahrwasser, so haben wir zwar nicht den mächtigen Strom der Süderaue mit uns, aber es geht dichter an Land entlang, und das macht es ein bisschen interessanter. Querab von Hilligenlei legen wir eine kleine Pause ein, bevor es auf "das offene Meer" hinaus geht. Wir haben unsere Seekarten so organisiert, dass meine das Gebiet bis hierher zeigt und Peters von hier bis Amrum. Wir einigen uns kurz auf den weiteren Kurs, und die Navigationshoheit wechselt nun von mir zu Peter. Mein Kartensatz ist ein gutes Dutzend Jahre alt, Peters gute zehn. Aber das ficht uns nicht an, denn auch die aktuellen Karten geben schließlich den sich ständig verändernden Verlauf der Priele nicht verlässlich an. Allerdings hat sich die Tonnenbestückung hier nennenswert geändert, so dass wir mit unseren Unterlagen im Moment nicht mehr viel anfangen können. Ich nehme die Seekarte aber sowieso eher als "unverbindliche Empfehlung": Sie gibt mir immerhin wertvolle Hinweise, wo ungefähr mit Flachs und wo mit tiefen Fahrwassern zu rechnen ist. Wo sich dann tatsächlich die Durchfahrten, Sandbänke oder steile Unterwasserkanten befinden, muss man mit dem Hintern erspüren oder an der Wasseroberfläche ablesen. Zudem haben fleißige Heinzelmännchen den Verlauf der Schweinsrückendurchfahrt mit jungen Birken markiert, so dass wir problemlos durch dieses anspruchsvolle Gewirr von Flachs und Tiefs mäandern. Wir fahren in die wunderschön hinter dem Horizont versinkenden Sonne hinein. Als sie die Kimm küsst, sieht es aus, als sei sie etwas verpixelt - so als stimme die Auflösung nicht für dieses breit angelegte Panorama. Wir haben keine Ahnung, wer da an den Einstellungen gedreht hat - wie HD-Qualität sieht das jedenfalls nicht aus!


Um halb elf laufen wir sanft auf dem Saum des Kniepsandes auf. Ungelenkt puhlen wir uns aus unseren Gehäusen, um mit steifen Beinen einen ersten Erkundungsgang zu machen. Da uns in einiger Entfernung noch ein schlickiger Priel den Zugang zum dauerhaft trockenen Sand verwehrt, beschließen wir, unsere Boote in einem kleinen Bogen zu einer geeigneten Lagerstelle zu rollern. Direkt am Wasser ist der Sand fest und glatt, so dass der Bootswagen fast von alleine rollt. Aber bald geraten wir in so weichen Untergrund, dass wir keuchend fast waagerecht vor unseren Lasten liegen und tiefe Riefen in den Sand fräsen. Irgendwann kippt mein Bootswagen unter dem Boot einfach um, so dass ich anhalten und ihn neu justieren muss. Die großen Kräfte, die im Zweikampf zwischen mir und dem Sand zur Wirkung gekommen sind, haben eine Strebe meines eigentlich überaus stabilen Gefährtes brechen lassen. Wenn man genauer drüber nachdenkt, ist es kein Wunder, dass das Gerät derartige Scherkräfte nicht überleben kann. Ich packe meine Schleppleine aus und befestige das hintere Ende an der Achse. So ziehe ich den Bootswagen nicht indirekt über das Boot, sondern direkt dort, wo auch die Gegenkräfte ansetzen. Trotzdem kann "von alleine rollen" nicht die Rede sein. Peter sieht mir und meinen breiten Reifen neidisch hinterher, als ich ihn in besonders tiefem Sand überhole, wo er soweit einsinkt, dass sogar seine Achse durch den Sand pfügt.

Meiner Paranoia folgend, dass ich es absolut nicht leiden kann, wenn ich nachts im Schlaf von sanft rauschenden Nordseewellen wachgekitzelt werde, haben wir unseren Zeltplatz so weit vom Wasser entfernt gewählt, dass schon die nächste Jahrhundertflut kommen müsste, damit wir hier nass werden. Die Zelte sind zügig aufgebaut, denn trotz der fortgeschritttenen Zeit kann man noch prima sehen. Zufrieden und geschafft kriechen wir in unsere Schlafsäcke.

Der Vorteil einer Nacht auf dem Kniepsand ist, dass hier weder bewollte noch gefiederte Lärmlinge ihr Unwesen treiben! So kann man in herrlicher Ruhe die Nacht ohne Blöken und Piepen zur Entspannung genießen und sich morgens erst durch die Sonne aus dem Zelt kitzeln lassen. Der Nachteil beim Biwakieren auf dem Kniepsand liegt im zweiten Teil seines Namens begründet: Überall ist SAND! Es gehört eine gehörige Portion Professionalität dazu, dem unnachgiebigem Drang dieses nur scheinbar inaktiven Materials, sich gleichmäßig in Nasen, Ohren und Ausrüstung zu verteilen, Paroli zu bieten. Man kann diesen Kampf zwar nicht wirklich gewinnen, aber ich bin schon stolz, wenn ich sagen kann, dass er unentschieden ausgegangen ist und mein Margarinetopf für den Rest der Fahrt nicht von solch kleinen, dunklen Punkten übersät ist. Trotzdem genießen wir den wunderschönen Morgen in der schon wärmenden Sonne.

Wir haben zwar Hochwasser, aber leider hat das Wasser die sandige Kluft, die wir gestern Abend zwischen uns und das Niedrigwasser gebracht haben, nur zum allerkleinsten Teil überwunden. Den Rest müssen wir wieder unter unsere unterschiedlich breiten Räder nehmen. Der Plan für heute ist, uns mit dem ablaufenden Wasser zum Wrack der "Pallas" spülen zu lassen und dann um beide Außensände herum in Richtung Eiderstedt zu fahren, wo wir uns wieder am Strand niederlassen wollen. Das ablaufende Wasser sorgt für eine flotte Fahrt und nach wenig mehr als einer Stunde sind wir am Wrack. Beim Navigieren leistet mir das GPS-Gerät wieder wertvolle Dienste: Zum einen weiß ich, dass wir immer zwischen zehn und elf Stundenkilometer schnell sind, zum anderen sagt es mir genau den Vorhaltewinkel, den wir fahren müssen, um nicht unnötig Weg zu vergeuden. Peter ist anfangs etwas skeptisch wegen der Richtung, gibt sich der Überlegenheit der modernen Technik aber geschlagen.

Ich habe das Südende des Süderoogsandes als nächsten Wegpunkt einprogrammiert. Nach kurzer Bedenkzeit äußert Peter aber den berechtigten Einwand, dass wir bei diesem Kurs nicht die Option haben, durchs Rummelloch abzukürzen, wenn uns der Schlag zu lang wird. Um uns also nicht in Zugzwang zu setzen, halten wir quasi genau nach Osten auf die Lücke zwischen den großen Sänden zu. Da das Wasser immer noch abläuft, müssen wir nun gegen den Ebbstrom anpaddeln. Wir sind nur noch knapp halb so schnell und kriechen mit knappen fünf Stundenkilometern über die Nordsee. So dauert es gute zweieinhalb Stunden, bis wir die läppischen etwa zwölf Kilometer zurückgelegt haben.

Der Eingang zum Rummelloch ist übrigens ausgesprochen schwierig zu finden. Auf der Karte sieht es so einfach aus, die Stelle mit dem offenen Wasser zu finden, aber in der Realität sieht man überall nur dünne Streifen von aus dem Wasser ragenden Sänden. Man kann leider unmöglich erkennen, wie weit sie jeweils entfernt sind oder auch nur, ob sie von Westen nach Osten verlaufen oder von Norden nach Süden. Der Unterschied ist gewaltig: Wenn der dünne Streifen Sand da vor uns von Westen nach Osten verläuft, verblockt er uns die Einfahrt und wir müssen rechts um ihn herum. Machen wir uns aber auf, ihn rechts zu umrunden und er verläuft von Nord nach Süd, so ist es bereits der Süderoogsand und eine Umrundung würde den Rest des Tages in Anspruch nehmen. Irgendwann definieren wir das vor uns liegende Wasser einfach als Durchfahrt und folgen ihm bis wir einen geeigneten Pausenplatz finden. Das Kriterium dafür ist, dass die Sandkante möglichst steil ist, denn erstens wollen wir unsere Schiffe nicht mehr als ein paar Meter aus dem Wasser ziehen und sie zum anderen nicht alle paar Minuten wieder vor dem auflaufenden Wasser in Sicherheit bringen müssen. Leider hat eine Horde Seehunde die gleichen Kriterien für einen schönen Pausenplatz und so paddeln wir bald wieder ein paar hundert Meter zurück um unsere ebenso kegelförmigen wie kurzsichtigen Freunde nicht zu beunruhigen.

Peter öffnet sein vorderes Lug und zieht ein paar triefnasse Packsäcke daraus hervor. Als ich einen Blick in die (von Gepäck) fast leere Luke werfe, bin ich ehrlich geschockt: es ist zu dreiviertel voll mit Wasser! "Da muss ich wohl die Dichtung mal auswechseln!", ist Peters Einschätzung. Ich bin froh, dass wir keine wirklich ruppigen Bedingungen haben, denn so könnten wir immer noch unterwegs eine Lenzung erfolgreich praktizieren. Der Vorschlag, nicht direkt zur Spitze des Süderoogsandes zu fahren, erhält so nachträglich eine besonders nachdrückliche Berechtigung. Überhaupt schenken wir uns die lange Keulerei bis nach Eiderstedt und entscheiden uns für die Urlaubsvariante: Kurzer Weg nach Hooge - Nachmittag frei zum Relaxen, Zelten auf Gras statt auf Sand!

Während draußen vor den Sänden doch noch etwas Wind ging und vor allem die See unablässigt bewegt war, ist hier drinnen die Wasseroberfläche spiegelglatt. Wir fahren betont langsam, denn wir laufen eher Gefahr, zu früh an unserem Ziel anzukommen und alles, was wir hier an Zeit vertrödeln, sparen wir hinterher beim Wuchten unserer Boote über den Schlick. Es sind am Ende nur etwa fünfzig Meter, die wir die Schiffe bis zur Badetreppe schleifen müssen, jeder mit seiner dafür individuellen Technik. Es herrscht erstaunlich reger Betrieb auf der Wiese vor dem Anleger der Pelworm-Fähre. Da tummeln sich etwa ein halbes Dutzend Menschen in Strandkörben oder auf Picknickdecken vor unserer Nase. Naja, wir gehen davon aus, dass sie sich mit der untergehenden Sonne verziehen werden.

Der Rest des Tages ist dem "dolce fa niente" gewidmet, dem wir uns mit großem Eifer hingeben. Natürlich gehört ein abschließender Spaziergang über die Insel mit Einkehr im "Friesenpesel" dazu. Da wir beide vorher ausgiebig gekocht und gegessen haben, kommen die Salzwiesenlämmer heute glimpflich davon und werden nicht in Senfsoße gebadet. Die Sonne geht hier nicht ganz so spektakulär unter wie gestern - aber die Auflösung ist besser!


Am Montag ist Morgenhochwasser um sieben, das Nachmittaghochwassser in Schlüttsiel um 19:30 Uhr. Das erscheint auf den ersten Blick ungünstig, aber wir haben einen Plan gemacht: Wir fahren irgendwann morgens, wenn noch genug Wasser da ist, zum Jappsand, machen dort Pause bis zum Tidenkipp und lassen und dann nach Schlüttsiel schlürfen. Gesagt, getan. Um neun Uhr morgens ist noch Wasser über dem Schlick und wir müssen unsere Boote nur die Badetreppe hinuntertragen, wo wir sie sanft absetzen können. Bis zur Spitze von Jappsand ist es ein Katzensprung und nach einer knappen Stunde sind wir da. Auch hier suchen wir uns einen Rastplatz mit steilem Abfall des Sandes zum Wasser. Die dort lagernden Eiderenten ernten nicht so viel Rücksicht wie die Seehunde gestern und müssen weichen. Nach einer Erkundung der näheren Umgebung entlocken wir unseren Booten die letzten Köstlichkeiten und bereiten etwas zu essen und zu trinken. Peter hat nur einen Gaskocher, aber ich mache mit meinem heiligen Spiritus-Kocher dem Pfingstmontag alle Ehre!

Wir schwärmen von der Einsamkeit und der glitzernden Umgebung und dass sie uns alleine gehört, weil hier niemand herkommen kann, der nicht ein Kajak hat. Ich erinnere mich an einen Besuch im Schloss Neuschwanstein, wo man als Touristenware verwurstet wurde und in langen Schlangen und Gedränge vergeblich nach Beschaulickeit und Besinnung suchte! Wie schnöde war der doch hiergegen! Hier ist Stille. Hier ist Einsamkeit. Hier ist Einzigartigkeit. Hier ist ... die "Hauke Haien"! Nanu? Was will die denn hier??? Ungerührt tuckert der Ausflugsdampfer direkt auf uns zu und rammt keine fünf Meter neben uns auf den Sand. Ist eben die steilste Stelle hier. Eine Leiter wird am Bug heruntergelassen und flugs sind wir von ca. drei Dutzend Sommerfrischlern umgeben, die beim ersten Betreten des Sandes entzückt ausrufen: "Oh, guck mal, 'ne Muschel!". Sie sind aber alle ausgesprochen gut erzogen und fragen sogar, bevor sie uns fotografieren, was wir gnädig gewähren. Meine Erlaubnis: "Sie dürfen uns auch füttern!", lässt aber leider niemanden Bananen oder Erdnüsse zücken. Wir machen aus der misslichen Lage das Beste und ordern von der Besatzung des Dampfers zwei Eiswaffeln. Wenn schon, dann wollen wir auch unseren Nutzen von dieser Störung haben.

Peter will das unglaublich warme Wasser zum Baden nutzen und stürzt sich in die Fluten. Er kann das "unglaublich" problemlos bestätigen.  Das "warm" allerdings nur für die obersten 25 Zentimeter - darunter gesellt sich zum "unglaublich" eher ein erfrischendes "kalt". Während seines Bades herrscht genau Stillwasser, so dass wir danach gemächlich unsere Boote packen und den Rückweg antreten. Da wir wieder im Langenessfahrwasser zurück wollen, gilt es, in die richtige Einfahrt einzufädeln und nicht durch eine der davor lauernden Sandbänke abgestreift zu werden. Der Wind hat in der Nacht gedreht und weht nun lau aus Nordwest. Damit ist es keine große Sache bis zu unserem Heimathafen zu paddeln. Auf halbem Wege überholen wir eine Gruppe von vier Paddlern aus Hamburg. Zusammen mit den dreien, die wir auf Hooge gesichtet haben, ist das nicht der Andrang, den wir uns aufgrund der Wetterlage und des besonderen Wochenendes erwartet haben.

Wenn man die Wetterlage an diesem Wochenende einmal rückblickend betrachtet, dann war sie für eine Helgolandfahrt wie geschaffen: Am Samstag wehte ein leichter Ostwind mit maximal drei Beaufort und am Montag schlug er um in Nordwest mit der gleichen Stärke. Die Temperaturen waren ideal mit etwa 18 bis 20 Grad in Luft und Wasser. So etwas wünsche ich mir für unseren nächsten Anlauf auch! Aber wenn mich dieses Wochenende eines für die Fahrt nach Helgoland gelehrt hat, dann dass dafür nicht nur das Wetter stimmen muss, sondern dass es andere Bedingungen gibt, die noch wichtiger sind und noch unkalkulierbarer. Es bedeutet zwar nur das endlose Durchqueren einer öden Wasserwüste, nach Helgoland zu fahren. Der tiefere Reiz aber besteht im gemeinsamen Planen, Vorbereiten und Erleben der Herausforderung. Gegen diese Gemeinsamkeit  ist das bloße Durchpaddeln der Strecke ein mageres Gut.

Und manchmal besteht das gemeinsame Erleben ja auch darin, dass man gemeinsam auf ein Erleben verzichtet.

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