Freitag, 30. August 2019

Nordsee mit neuer Seekarte

Dieses Jahr sind meinem Fahrtenangebot, das normalerweise "Nordsee für Einsteiger" heißt, nur Paddler mit soliden Kenntnissen und Fertigkeiten gefolgt. Nachdem Björn in letzter Sekunde aus beruflichen Gründen absagen müsste, blieben fünf wackere Teilnehmer für ein Abenteuer auf der Nordsee übrig: Anja, Betzi, Lauritz, Maditha und ich. Niedrigwasser auf Hooge ist für 21 Uhr angesagt, Sonnenuntergang für zwanzig nach acht - das hört sich auf den ersten Blick entspannt an. Aber wenn man alles zusammenrechnet - zweieinhalb Stunden Paddeln, ein Stunde Packen in Schlüttsiel, zwei Stunden Autofahrt und eine halbe Stunde Packen vorm Bootshaus - kommen da sage und schreibe sechs Stunden bei raus! Wenn wir also um acht auf Hooge ankommen und damit überhaupt noch eine Chance wahren wollen, ohne schwarze Beine aus dem Schlick zu kommen, dann  müssen wir uns um zwei Uhr am Bootshaus treffen!

Zum Glück sind alle nicht nur überpünktlich sondern auch super schnell mit Verstauen des Gepäcks und Boote auf die Autos schnallen, so dass wir hier schon eine Viertel Stunde herausgeschlagen haben! Allerdings wird die gleich wieder durch den dichten Verkehr in Kiel aufgefressen. Zu allem Überfluss muss da auch noch ein Unfall direkt bei Karstadt unseren Schwung bremsen. Und selbst nachdem es auf der Autobahn bis Schleswig erwartungsgemäß glatt läuft, hält uns der nächste Unfall im Kreisel bei Schuby abermals auf. Dann verfransen wir und noch im Kreisel in Viöl, was rückblickend betrachtet aber vermutlich als Segen aufgefasst werden muss, denn auf unserer eigentlich anvisierten Route hätte nämlich eine Baustelle länglich umfahren werden müssen. Mit allem Für und Wider kommen wir dann doch wie geplant um halb fünf Uhr in Schlüttsiel an.

Aber auch hier sind wir super schnell im Packen, so dass wir abermals eine halbe Stunde gut machen und bereits um fünf in unseren Booten auf der Nordsee schaukeln. Das war gerade noch rechtzeitig, um an der Rampe problemlos ins Wasser zu kommen! Tide kann ganz schön unentspannt sein!

Die Sonne scheint, es ist warm und der Wind weht uns lustlos entgegen. Um nicht unnötig Zeit zu vertrödeln, schenke ich mir die Umrundung von Gröde, die etwas Abwechslung bedeutet und uns mehr von der Landschaft gezeigt hätte. Die ersten Kilometer sind der Gewöhnung an die Landschaft und an die sparsamen Orientierungsmöglichkeiten gewidmet. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass alle in der Gruppe eine Seekarte mitführen - und sich auch mit ihrer Hilfe in der Landschaft orientieren! Bis auf Anja haben sogar alle die brandaktuelle Version dabei. Es ist auch für mich, der tapfer zwanzig Jahre lang dieselbe Seekarte genutzt hat, eine ganz neue Erfahrung, dass sich die Tonnen tatsächlich da befinden, wo sie verzeichnet sind, und auch in Natura so bemalt, wie sie auf der Seekarte beschriftet sind! Total einfach, so zu navigieren! Das zahlt sich insbesondere im letzten Drittel unserer Reise aus, wo das irgendwann neu geschaffene Hooge-Fahrwasser in die Süderaue mündet. Das ist auf Anjas Seekarte noch sehr anders dargestellt! Hier schrammen wir etwas zu weit westlich über die die beiden Priele trennende Sandbank - fünf Minuten zu spät, so dass wir tatsächlich kurz aussteigen müssen, um unsere Boote zehn Meter über den Sand zu ziehen.

Um kurz vor halb acht schrammen wir auf die hässlichen Steine auf dem Grund der Ausfahrt aus dem Hooger Segelhafen. Wir schaffen es leidlich unverschlickt auf den Leitdamm - bis auf Maditha, die keinen großen Aufwand treibt, dem schwarzen Schleim zu entkommen. Ungehemmt stapft sie bis zu den Knien im Schlick durch den Modder. Und weil ihre Badelatschen dem saugenden Griff des Watts nicht gewachsen sind, muss sie sie mit den Armen bis zum Ellenbogen im Schlick wieder ausbuddeln. Da wir die Boote dann immer zu viert nach oben tragen, sehen die Teile danach alle sehr nach "Anlanden auf Hooge bei Niedrigwasser" aus.

Kaum sind die Zelte hergerichtet, breitet sich in uns allen unmittelbar die Hallig-spezifische Entspannung aus. Die Luft ist lau, der Wind eingeschlafen und die Sonne auf ihrem letzten Stück Weg hinter den Horizont. Gemütlich lauschen wir auf dem Deich sitzend dem beruhigendem Rauschen meines Kochers, der erst einen heißen Kakao, dann Nudeln mit Ente, einen Tee und dann wieder einen Kakao bereitet. So geht Erholung!

Bei der Vorbesprechung, was wir am Samstag unternehmen wollen, haben wir die Fahrt zur Pallas fallen gelassen, weil die ein Aufstehen um fünf Uhr bedeutet hätte. Die Variante, stattdessen um Japp- und Norderoogsand zu fahren, ist etwas humaner: Aufstehen um sechs, auf dem Wasser um acht. Auch hier zeigt sich, mit was für einer reifen und professionellen Truppe ich es zu tun habe: gewöhnlich wird die Ansage "Abfahrt um acht" eher so aufgefasst, dass man um acht sich selbst und das eigene Kajak bereit gemacht hat, dass man sich jetzt in Richtung Wasser in Bewegung setzen könnte. Dass der Akt, eine Truppe von der Wiese ins Wasser zu befördern, mindestens zwanzig Minuten dauert, wird gerne unterschlagen. Nicht so heute: Punkt acht Uhr sitzt alles, was mit will, im Kajak.

Wir wollen zuerst mehr oder minder genau nach Westen fahren - aber höchstens bis um 9:00 Uhr. Aus dem Hooge-Fahrwasser an Jappsand vorbei in Richtung der Tonne 20 ins Schmaltief. Und dann genau nach Süden - so lange, bis wir die Durchfahrt zwischen Norder- und Süderoogsand treffen. Anfangs läuft das auch mehr als geschmeidig, durch die starke Stromunterstützung sind wir mit über zehn Stundenkilometern unterwegs. Das wird gleich weniger, als wir aus dem tiefen Priel ins flachere Wasser dicht vor Jappsand kommen. Da man unsere Zieltonne 20 nicht sieht, habe ich Kurs 240 Grad angegeben, das lässt sich gut ablesen und steuern. Trotz recht guter Sicht dauert es überraschend lange, bis ich eine Tonne sehe. Die liegt etwas nördlicher als unser Kurs - aber es ist besser auf eine unbekannte Tonne zuzusteuern als immer nach Kompasskurs zu fahren, also nehme ich sie aufs Korn. Bis Betzi mich auf die "richtige" Tonne aufmerksam macht! Die liegt tatsächlich auf 240 Grad - und schon fahren wir wieder in diese Richtung.

Um neun Uhr haben wir die Tonne zwar bei Weitem nicht erreicht, aber nun macht es keinen Sinn mehr, weiter in ihre Richtung zu fahren, weil ab jetzt der Strom südlicher läuft. Neue Kursansage: 180 Grad. Damit sollten wir nach meinen Berechnungen den Eingang zum Rummelloch finden, ohne vorher auf Sand zu laufen. Auf etwa halber Strecke liegt ein Fischkutter genau auf unserem Kurs. Das ist ungemein praktisch, weil wir ihn dadurch zum Anpeilen nutzen können, was wesentlich angenehmer ist, als immer auf den Kompass zu blicken. Als wir ihn passieren, können wir niemanden an Bord erkennen. Also ist das entweder die Kuttervariante des Fliegenden Holländers oder die Besatzung hält ein Nickerchen, um sich vom nächtlichen Fischzug auszuruhen. Ich hatte kurz vorher mein Funkgerät eingeschaltet, um ansprechbar zu sein, sollte die Besatzung Kontakt mit uns aufnehmen wollen. Man muss bedenken, dass wir hier ziemlich weit draußen auf der offenen Nordsee sind, wo man gemeinhin nicht damit rechnet, Kajaks anzutreffen. Es wäre durchaus plausibel, wenn besorgte Nachfragen über Funk abgesetzt würden. Statt der Kutterbesatzung meldet sich der Seewetterbericht, dem ich für einige Zeit lausche. Er stehen keine schlimmen Dinge für uns in Aussicht, aber das kurze Aussetzen des Paddelns offenbart, dass die Strömung weit früher und radikaler gekippt ist, als das die Topp-Glowing-in-the-Dark-Navigationsapp des Nautischen Verlages vorhergesagt hat: statt uns sachte einfach von West nach Ost zu schieben, steht sie genau gegen uns! Das wirkt sich durchaus negativ auf unsere Geschwindigkeit aus.

Da wir es aber eh nicht eilig haben, ist es kein großes Drama. Allerdings bringt es mich nachhaltig durcheinander in der Abschätzung, wie weit wir uns dem Durchlass zwischen den beiden großen Sänden schon genähert haben. Zwar habe ich einen Wegpunkt im GPS einprogrammiert, so dass wir stumpf nach Angaben des Gerätes fahren könnten. Aber ich will heute komplett ohne es auskommen, schließlich ist die Sicht gut genug und es kann nicht wirklich etwas schief gehen. Lieber fahre ich kurz auf eine falsche Tonne zu und mache hier einen unnötigen Schlenker und wir lernen etwas, als dass ich mich von der Technik (ver)führen lasse, ohne einen eigenen Beitrag zu leisten.

Und siehe da - wie immer glaube ich, dass ich eine Durchfahrtmöglichkeit in der Ferne erkenne und lasse drauf zu steuern. Und wie immer stellt es sich schließlich heraus, dass da doch Sand im Weg ist, und wir müssen unseren Kurs noch einmal mehr in Richtung England drehen. Immerhin kommen wir dadurch in das Gebiet, wo die Wellen frontal auf den flachen Sand laufen und sich weiß brechen. Je nach innerer Einstellung sieht das entweder bedrohlich aus oder verlockend. Ich weiß aber, dass die Wellen zu klein sind, um bedrohlich sein zu können und leider ist hier auch das Wasser zu flach, als dass man nenneswert Spaß haben könnte. Aber immerhin spritzt es ein bisschen. Kurz danach gehen wir an "Land", denn nur wenig weiter liegt eine Horde Robben auf dem Sand, die wir nicht aufscheuchen wollen.

Wir ziehen unsere Boote gleich ein ordentliches Stück auf den Sand hoch - schließlich wollen wir nicht nach zehn Minuten schon wieder durch das auflaufende Wasser gestört werden. Eine ausführliche Pause ist fällig, in der allerlei Leckeres aus den Stauräumen gefischt und vertilgt wird.

Nach einer guten Stunde hat sich das Wasser bis an unsere Boote herangemacht, das ist das Zeichen weiterzufahren. Die gesamte Zeit über haben uns zwei Seehunde beobachtet, die vor dem Sand Streife schwammen. Sie beobachten auch unseren Aufbruch. Ihre Kumpels, die etwas weiter auf dem Sand ihre Bäuche in die Sonne halten, sind in der Zwischenzeit auf gute hundert Exemplare angewachsen. Wir fahren weit genug um sie herum, so dass kein Tier auf die Idee kommt, ins Wasser zu gleiten.

Der Charakter der Landschaft und die Bedingungen sind hinter den Sänden radikal verschieden von den Verhältnissen draußen vor. Zwar weht kein wirklicher Wind, aber auf der offenen See führt das bisschen Luftbewegung, das wir haben, immerhin zu einigermaßen bewegtem Wasser. Hier drinnen herrscht Ententeich und Sonnenschein. Es ist aber nicht ganz leicht, hier seinen Weg zu finden. Zwar liegt zwischen uns und Hooge eine durchgehende Wasserfläche, aber die Tiefe unter der Fläche ist sehr unterschiedlich. Zwar kommen wir manchmal in so flaches Wasser, dass wir mit den Paddeln aufsetzen, aber im Großen und Ganzen bekommen wir es ganz gut hin, die tiefen Priele und die zügige Strömung darin zu nutzen.

Kurz bevor wir in den Hooger Segelhafen einlaufen, lädt Betzi noch dazu ein, ein bisschen im warmen Wasser zu üben. Ich mache einen halbherzigen Versuch, nach einer Kenterung mein halbes Ersatzpaddel unter Wasser aus seiner Halterung zu ziehen und damit hochzurollen. Klappt aber nicht auf Anhieb, und so helfe ich erst mal einer Segeljolle gegen den Wind in den Hafen zu kommen. Das Einlaufen im Segelhafen ist eine wahre Freude: das Wasser steht so hoch, dass man quasi direkt mit dem Boot auf die Zeltwiese fahren kann!

Nur Anja begleitet mich heute in den Friesenpesel, die anderen kochen selbst auf dem Deich. Später sitzen wir noch zusammen und beobachten das Flackern des Himmels und rätseln, ob das nun Wetterleuchten ist oder Gewitter.

Was da nachts genau um null Uhr an den Zelten rüttelt und üppig Wasser vom Himmel schüttet, ist auf jeden Fall ein Gewitter! Der Wind schnellt innerhalb von kürzester Zeit auf acht Beaufort hoch, und es gießt wie aus Kübeln. Einige aus unserer Gruppe müssen noch mal die Zeltabspannungen nachbessern. Da das Wetter auch morgens noch nicht so ganz nach "draußen frühstücken" aussieht, ziehen wir mit unserem Trödel ins Seglerheim zurück. Hier können wir in muckeliger Wärme dem Regen dabei zusehen, wie er gegen die großen Scheiben wütet. Und den Windmesser können wir auch beobachten: Nordnordwest und so um die achtzehn Knoten - macht etwa fünf Beaufort. Aber als dann eine Front durchzieht, geht es hoch bis auf 27 Knoten - das ist Windstärke sieben! Da kommt der eine oder andere Gedanke an die Fähre auf.

Wir wollen so früh, wie der Wasserstand es zulässt, losfahren, um nicht allzu spät zu Hause anzukommen. Zum Glück hat sich der Regen gelegt und wir bekomme unsere Ausrüstung leidlich trocken in die Boote. Um halb zwölf macht Betzi ein Gruppenfoto mit Selbstauslöser und wir blasen zur Abfahrt. Der Wind bläst nicht mehr gar so arg, so dass die Wellen wieder mal zu klein für richtigen Spaß bleiben. Aber auch wenn Nordnordwest kein wirklicher Rückenwind ist, ist es eben auch kein Gegenwind. Nach nicht einmal zweieinhalb Stunden kommen wir in Schlüttsiel an, wo das Wasser gerade über die Kante lugt, so dass wir bequem anlanden können.

Für mich war dies die Nordseetour mit dem meisten Know-How und dem größten Engagement für die Gegend und die Navigation. Fühlt sich gut an!

(Fotos Courtesy Maditha K. - und BalticPaddler)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen