Sonntag, 18. Juli 2021

Rund Alsen

Durch die durchweg positiven Erfahrungen im Vorjahr angefixt wollte ich auch dieses Jahr wieder eine Tour Anfang Juli auf der Nordseetour unternehmen. In der Hoffnung auf ein Corona-Wellental hatte ich sie schon Anfang April als Vereinsfahrt angeboten. Irgendwie habe ich mich bei dem ins Auge gefassten Termin aber mit der Tide vertan: am ursprünglich ausgesuchten ersten Wochenende im Juli war das Schwappen des Wassers einer entspannten Tour ganz und gar nicht gewogen. Ohne eine rechte Erklärung für meine anfängliche Wahl, die mein Ansehen und das Vertrauen in meine Kompetenz bezüglich Tourenplanung hätte retten können, musste ich den Termin dann um eine Woche verschieben. Dadurch verlor ich aber zwei Interessentinnen, die das dann gewählte Wochenende schon anderweitig verplant hatten. Immerhin konnte ich dadurch aber auch Ulrich und Peter noch als Mitfahrer gewinnen.

Vorhersage am Mittwoch, den 14.07.
Durch diese kleine Rochade klang die Gruppenzusammensetzung - Sabine, Jörg, Peter, Ulrich und ich - wie man sie gestalten würde, wenn man Größeres vorhätte. Hatte ich aber eigentlich nicht. Allerdings zeigte sich die Wettervorhersage, sobald das Wochenende in ihre Reichweite rutschte, wenig verlockend. Wind konstant mindestens sechs Beaufort - und konstant aus nordwestlichen Richtungen. Trotzig Verdrängung übend versuchten Peter, Jörg und ich noch am Mittwoch der Vorwoche eine Umrundung von Amrum zu planen. Das war im Prinzip auch kein unüberwindliches Problem. Allein die Windvorhersage müsste sich noch drastisch ändern. Wird schon.

Wurde aber nicht. Am darauffolgenden Mittwoch war die Vorhersage für die Nordsee immer noch so, dass ich dort keine Paddeltour veranstalten wollte - auch nicht, wenn sich mit der Gruppenzusammensetzung prinzipiell Größeres bewältigen ließe. Zusammen mit Peter entsteht die Idee, Alsen zu umrunden, was ich am nächsten Tag noch detailliert ausarbeite und den anderen mitteile.

Es soll gegen den Uhrzeigersinn um Alsen herum gehen. Das ist kein Pappenstiel, denn es sind über 100 Kilometer. Es gibt ja Leute, die diese Insel an einem Tag umrunden, wie ich in der letzten Ausgabe unserer Vereinszeitung lesen musste - aber die starten dann nicht in Deutschland - und die müssen sich auch nicht mit einem sechser Wind auseinandersetzen.

Zur Ausarbeitung gehört auch, dass ich mir Übernachtungsplätze an geeigneten Positionen raussuche, so dass die Gesamtstrecke in zu bewältigende Etappen zerfällt. Für Freitag habe ich mir den Platz Taksensand rausgesucht, bis zu dem es aber 37 Kilometer sind, wenn wir von Wackerballig aus starten. Da wir dort aber erst am späten Nachmittag starten können, ist das vielleicht etwas zu ehrgeizig, so dass ich noch Blommeskobbel ins Auge fasse, wohin es auch schon sportliche 29 Kilometer sind. Die Koordinaten beider Plätze übernehme ich sorgfältig in mein GPS-Gerät.

Der Samstag würde dann ausgiebig Gelegenheit bieten, seine eigene Gegenwindfestigkeit zu testen, bevor wir dann gegen Ende des Tages in den Alsenfjord einbiegen und von da an Rückenwind haben würden. Die Überfahrt von Sonderburg nach Wackerballig - 18 Kilometer vor einem steifen Wind - die sind es, worauf ich mich freue und was die Tour lohnenswert macht!

Die Anreise ist einigermaßen zäh - in Eckernförde bremst uns ein Stau und auf der Bundesstraße nach Kappeln flutscht es auch nicht wirklich. Die uneingeschränkt gute Nachricht ist, dass das Parken in Wackerballig nichts kostet! Überhaupt wirkt der Ort, als würde das Leben der restlichen Welt im wesentlichen an ihm vorbeitoben.

Davon träumen Babies!
Das Wasser am Strand hier wird so seicht tiefer, dass die Badegäste gute hundert Meter waten müssen, bevor sie in knietiefem Wasser endlich etwas schwimmen können. Dafür ist es so unglaublich warm, dass sogar das Mittelmeer neidisch werden würde! Nachdem ich mein Babythermometer ins Wasser gehalten habe, will ich es kaum glauben: 27° Wassertemperatur!

Es herrscht kaum Wind, wir gleiten zügig nach Norden. Ulrich hat ein funktionierendes GPS dabei und unsere Position, Geschwindigkeit und noch zu bewältigende Entfernung ständig im Blick, Sabine trägt eine GPS-Uhr am Arm, mit der sie unsere zurückgelegte Entfernung und die aktuelle Geschwindigkeit checken kann, und Jörg hat ein Handy und eine App, mit der er nachsehen könnte, wo wir sind und was wir da wollen! Peter fährt nach Bauchgefühl  und ich - sagte ich schon, dass mein sorgfältig mit den Koordinaten der Übernachtungsplätze programmiertes GPS-Gerät immer noch am USB-Port meines heimischen Rechners hängt?

Ulrich fährt vorschriftsmäßig soweit vom Ufer entfernt, dass er außerhalb der Grenzen des Naturschutzgebietes Geltinger Birk bleibt, während wir anderen einfach einen plausibel weiten Abstand zum Ufer halten, so dass kein Kormoran auf die Idee kommt, unsretwegen auffliegen zu müssen.

Hinter der Spitze der Birk müssen wir noch einmal deutlich nach Osten abbiegen, denn die Süd-Ost-Spitze von Alsen ragt noch eine ganze Ecke in diese Richtung über die Halbinsel Kegnäs hinaus. Das Queren der Flensburger Förde ist hier sehr meditativ, da sich kaum ein Wellchen regt oder ein Lüftchen weht. Ulrich macht die Hitze etwas zu schaffen. Er verschafft sich Linderung, indem er hin und wieder seinen Hut mit Ostseewasser tränkt.

Als wir etwa querab Kegnäs Fyr sind, fragt Sabine mich nach einer Schätzung der Entfernung bis zur gut sichtbaren grünen Fahrwassertonne. "Zwei Kilometer" ist meine Antwort. Als wir sie dann erreichen, zeigt ihre Uhr dann aber doch 150 Meter mehr an! "Und wieweit ist es nun bis zur Landspitze?" Die meisten schätzen das auf drei Kilometer - aber Ulrich raubt uns gleich die Illusion, er kann als einziger auf seinem GPS-Gerät sehen, dass es ziemlich genau fünf Kilometer sind. So verlässlich ist die Entfernungsschätzung auf See eben leider doch nicht.

Wir fahren hier zeitweise ziemlich weit verstreut auf der Wasserfläche umher - teilweise mit 500 und mehr Metern Abstand. Das ist für mich unter diesen Bedingungen aber überhaupt kein Problem. Solange sich die Teilnehmer in Sichtweite befinden, kann ich jeden jederzeit erreichen, wenn einer trotz fehlender Anlässe Probleme bekommen sollte - und er kann bei 24° Wassertemperatur gerne eine Weile im Wasser schwimmen, bevor ich ihn erreiche.

Bei Poelshuk, dem südöstlichen Zipfel von Alsen, beschließe ich, dass wir heute doch "nur" bis Blommeskobbel fahren. Wir würden sonst erst im Dunkeln ankommen und morgen haben wir halt den ganzen Tag Zeit und da können wir die "verlorenen" acht Kilometer leicht wieder reinpaddeln.

Ulrich benutzt wegen der Hitze sein Camel-Back häufig und intensiv - was ja gut ist. Aber es ist wohl noch recht neu - und schmeckt deshalb deutlich danach. Das führt schließlich dazu,  dass ihm total kodderig ist und wir kurz an Land müssen, um seinen inneren Zusammenhalt wiederherzustellen. Aber die wenigen Kilometer bis zum Übernachtungsplatz kann er danach ohne weitere Probleme aus eigener Kraft zurücklegen.

Nachdem wir an Mommark vorbei sind, wollen wir intensiv nach dem Übernachtungsplatz Ausschau halten. Jörg hat ja die Shelter-App und die zeigt ihm verlässlich, wie weit wir noch von unserem Ziel entfernt sind. Ja - wenn eben Empfang da ist. Ist aber nicht. Das beschäftigt ihn eine Weile. Insbesondere macht ihm zu schaffen, dass er keine Erklärung für die Empfangsverweigerung seines Gerätes hat. Nach einem kompletten Neustart, der das Problem schließlich behebt, bleibt für ihn als Grund für die Fehlfunktion nur die Erkenntnis: "Diese Geräte tun so etwas!"

Der Übernachtungsplatz liegt an einer Steilküste, aber der Weg nach oben ist nicht kompliziert. Oben erwartet uns ein idyllischer Lagerplatz mit wunderbarer Aussicht. Es ist unglaublich warm - auch ohne ein Lagerfeuer, um dessen Stelle wir uns versammelt haben, um jeder für sich das Abendessen  zu zelebrieren. Ich hatte Jörg missverstanden und dachte, dass er auch Essen für heute organisieren wollte und nicht nur für Samstag. Aber zum Glück habe ich ja eine Extra-Portion "Peking-Ente" eingepackt - für Notfälle!

Wir sitzen noch eine ganze Weile und sinnieren in die nicht vorhandenen Flammen, lassen das eine oder andere gemeinsam überstandene Abenteuer noch einmal aufleben. Nur vereinzelte Mücken stören die Idylle. Um Punkt 23 Uhr wird ein imaginärer Schalter umgelegt und die Flaute gründlich weggeweht. Das ist der Wetterwechsel! Die Baumkronen wiegen sich mächtig rauschend im Schwarz der Nacht.

Die ist übrigens entsetzlich warm. Ich habe meinen Schlafsack zwar ausgepackt, aber eigentlich nur, weil ich glaube, dass er sich außerhalb des ihn arg beengenden Packsack deutlich wohler fühlt. Zur Bedeckung reicht vollkommen das dünne Seideninlet, in das ich auch erst spät in der Nacht schlüpfe.

Am Morgen hat der Wind etwas nachgelassen - was nicht heißt. das keiner mehr wehen würde. Der Kleine Belt ist draußen voller weißer Schaumkronen - das sind immer noch satte fünf Beaufort. Leider wehen die genau aus der Richtung, in die wir wollen. Da ist es perfekt passend, dass Ulrich frische Eier mitgenommen hat und reichlich Pfannkuchen für uns alle zum Frühstück produziert. Die sind oberlecker und finden reißenden Absatz.

Da das Wasser am Ufer durch den Wind recht unruhig ist, ist es keine gute Idee, wenn jeder einzeln mit seinem vollbeladenen Boot versucht, den steinigen Uferstreifen zu überwinden. Wir überlegen uns eine ausgefeilte Taktik: als erstes tragen wir Sabines Boot gemeinsam ins Wasser und postieren sie daneben. Danach tragen wir die übrigen Boote zu viert ins Wasser und lassen sie dort von Sabine festhalten. Dann steigt einer nach dem anderen in sein Boot, wobei die anderen es festhalten - bis nur noch einer bis über die Hüften im Wasser steht. Als letztes versuche ich dann, so gut es geht, ebenfalls in mein Boot zu klettern, ohne allzu viel Ostsee mit hineinzunehmen. Wie schön, dass das Wasser hier um die 22° hat, da ist es kein Problem, ein Weilchen im Wasser zu stehen.

Die Lage an der Elektronik-Front stellt sich heute nicht sehr erfreulich dar: Jörgs Handy ist leer, Sabines GPS-Uhr hat über Nacht nicht geladen und die Knöpfe an Ulrichs GPS-Gerät sind nicht für die rauhe Behandlung ausgelegt, dass sie immer mittels Daumennagel betätigt werden müssen. Sie haben den Klügeren gespielt und nachgegeben - mit der Konsequenz, dass nun durch ein Loch Wasser ins Innere der Elektronik dringen könnte. Also müssen wir versuchen, unseren Weg heute alleine zu finden. Bei einer Inselumrundung sollte das zu machen sein: wir müssen nur darauf achten, dass links Land, vorne Wasser und rechts Ozean ist!

An der Hafeneinfahrt von Fynshav halten wir kurz inne und lassen einen Kormoran passieren - und die Fähre gleich mit, weil sie auch gerade kommt.

Wenig später sehe ich etwas grünes im grünen Wasser dümpeln und fahre hin. Es ist eine Flaschenpost, deren Inhalt noch halbwegs intakt aussieht. Ich rette sie in mein Boot und werde sie in aller Ruhe und Sorgfalt zu Hause öffnen und dann den darin beschriebenen Schatz heben - oder die Schiffbrüchigen, deren Hilferuf es ist, von ihrer Insel retten - oder die Prinzessin befreien, die hier von ihrer Gefangenschaft berichtet - und sie dann heiraten und ihre Stiefmutter ins Gefängnis stecken! Das hat sie dann davon! Jedenfalls bin ich gespannt.

Hinter Fynyhav erstreckt sich eine flache Bucht, die wir in gerader Linie queren. Wir peilen den Leuchtturm an, der an ihrem Ende schon von weitem erkennbar ist - wie sich das für gute Leuchttürme gehört - und wovon sich das Bülker Exemplar mal eine Scheibe abschneiden sollte!

Eigentlich wollten wir gerne direkt am Leuchtturm Pause machen, aber offensichtlich verspürt Sabine, die meistens weit vorne fährt, einen solchen Druck in der Blase, dass sie einige hundert Meter vorher an Land geht und umgehend im Buschwerk verschwindet. Wie wir feststellen müssen, ist der Ort optimal gewählt, denn ab hier bis zum Leuchtturm ist alles Schutzgebiet, in dem man nicht anlanden darf. Außerdem gibt es hier eine Tisch-Bank-Kombination, mehrere Abfalleimer - und in einiger Entfernung sogar eine komfortable Toilette! Wir stärken uns ausgiebig und vernichten dabei auch die vom Frühstück übrig gebliebenen Eierlappen.

Bis hierhin haben wir 15 Kilometer auf der Uhr - und wir sind gute drei Stunden unterwegs. Diese auf den ersten Blick wenig beeindruckende Performance ist schlicht Ausdruck der Tatsache, dass wir uns die gesamte Zeit gegen einen Wind voran kämpfen, der uns mit vier bis fünf Beaufort entgegenbläst. Dafür ist unsere Geschwindigkeit sehr solide.

Vom Geschwindigkeitsdiagramm des heutigen Tages kann man sich praktisch die gesamte Tour erzählen lassen: bis zur ersten, kurzen Pause in Fynshav, bei der wir den Kormoran passieren lassen, wirkt die Küstenlinie noch etwas als Windschutz, danach knickt die Landschaft deutlich nach Westen ab und liefert uns damit dem Wind ungeschützt aus. Man sieht auch, dass mit zunehmender Dauer die Geschwindigkeit nachlässt.

Nach der Pause am Leuchtturm (km 15) geht es mit frischer Energie weiter. Der deutlich erhöhte Block zwischen km 20 und 24 spiegelt die halbe Stunde wieder, in der ich "mein Boot mal laufen lassen" habe. Der kleine, noch höhere Peak ist die kurze Phase, in der ich mit dem Wind zur Gruppe zurück paddle. Ab da mühen wir uns wieder mit nachlassender Spritzigkeit bis zur nächsten Pause kurz hinter der äußersten Nordspitze der Insel. Auch diese Pause wirkt belebend, und wir sind danach über einen Stundenkilometer flotter unterwegs als die letzte dreiviertel Stunde davor. Als wir schließlich in den Alsenfjord einbiegen, haben wir den Wind endlich von hinten, und wir surfen entspannt dem anvisierten Übernachtungsplatz zu. Schon toll, was man aus so einem GPS-Diagramm alles heraus lesen kann!

Direkt vor dem Nordkapp von Alsen liegt ein ziemlich ausgedehntes Flach. Das erzeugt natürlich spritzende Wellen, die einem aber nix tun, weil sie einfach zu klein sind. Aber es tummeln sich zahlreiche Kite-Surfer hier, für die das natürlich ein ideales Revier ist.

Die Navigation im Alsenfjord ist nicht mehr so trivial wie vorher - weil wir jetzt links und rechts Land haben! Und dann zweigt auch noch der Augustenborgfjord nach links ab und bietet damit eine prima Möglichkeit, sich grandios zu verfahren. Aber bei der Versammlung gewiefter Navigatoren bewältigen wir die Herausforderung, ohne Umwege in den Alsensund einzubiegen, ohne Probleme. Einen Umweg machen aber Sabine und Jörg noch - sie sind sich nicht sicher, ob wir mit unserem Trinkwasser über die Runden kommen und holen noch Nachschub vom Zeltplatz auf der anderen Sundseite.

Am Übernachtungsplatz Arnkill hat außer uns nur noch ein dänisches Pärchen sein Zelt aufgeschlagen. Die beiden sind mit Fahrrädern unterwegs und wollen morgen eine ordentliche Strecke zurücklegen. Aber anders als wir, wollen sie morgen gegen den Wind fahren! Der Platz hat sich nicht großartig verändert, seitdem ich das letzte Mal hier war - allerdings existiert das Plumpsklo im Wald nicht mehr. Dafür gibt es jetzt Bremsen hier!

Am nächsten Morgen muss ich wieder feststellen, das der Platz immer ausgesprochen feucht ist. Und die Morgensonne erreicht die Zelte erst sehr spät. Aber bis zum Einpacken ist unsere Ausrüstung gut durchgetrocknet. Es ist deutlich kühler geworden. Als wir in die Boote steigen, haben alle an der Bekleidung zugelegt. Ich habe eine langärmlige Paddeljacke an und überlege bald, sie wieder auszuziehen, weil es so kalt dann doch nicht ist. Ich warte damit bis zur Pause in Sonderburg.

Es sind zwar nur gute sieben Kilometer bis zum Strand an der Bucht Vemmingbund am südlichen Ausgang des Alsensunds, aber hier ist die letzte Möglichkeit, eine Pause an Land zu machen, bevor wir die 18 Kilometer weite Querung zurück nach Wackerballig angehen. Hier am Strand ist es sehr windgeschützt und man kann kaum glauben, dass draußen ernst zu nehmende Wellen auf uns warten. Aber ich sehe mir lange und ausgiebig den Horizont an und die Segelboote, die weit draußen gefährlich schief durch die Landschaft stampfen. Die Kimm ist leidlich ausgefranst - ein untrügliches Zeichen für eine rauhe See. 

In einer kurzen Lagebesprechung einigen wir uns auf den zu steuernden Kurs. Die gegenüberliegende Küste ist zwar eindeutig zu erkennen, aber natürlich sind auf die Entfernung keine Einzelheiten auszumachen. Ulrich hat eine grobe, vom Bildschirm abgepauste, handgemalte Seekarte dabei und zudem ein Fernglas. Ich habe Kopien der einzelnen Routenabschnitte mit allen Peilungen und Entfernungen im vorderen Schott und in der Tagesluke ein Tablet mit einer Fully-Featured-Navigations-App, bei der ich die Route schon einprogrammiert habe. Nichts davon benutzen wir. Ich weiß im Nachhinein nicht wirklich, warum wir uns lediglich auf eine grobe, optische Daumenpeilung beschränken. Es kann natürlich unter diesen Verhältnissen nichts wirklich schief gehen, aber irgendwie wäre es professioneller gewesen, wenigstens eines der anerkannten Navigationsmittel zu benutzen. So schätze ich die Richtung zu unserem Ziel auf deutlich mehr als 45 Grad südlich von Ost. Unter Berücksichtigung der Winddrift und der kajakspezifisch möglichen Präzision beim Ablesen der Kompasswerte gebe ich zwischen 150 und 180 Grad als zu steuernden Kurs vor (der in meiner Routenplanung angegebene Kurs wäre 161 Grad gewesen).

Eine dreiviertel Stunde gönnen wir uns, um Kräfte zu sammeln, die Toilette zu nutzen und - nach meiner eindringlichen Beschreibung der uns erwartenden Verhältnisse - nochmals die Kleidung anzupassen, bevor wir wieder in See stechen. Anfangs ist der Seegang noch recht moderat, aber sehr bald steigert er sich beträchtlich - und es ist absehbar, dass es noch deutlich anspruchsvoller werden wird. Obwohl ich weiß, dass alle meine Begleiter solche Bedingungen sicher handhaben können, bin ich anfangs deutlich angespannt. Es ist keinesfalls aus Sorge, dass mir die Verhältnisse selbst Probleme bereiten würden. Es ist eine Sorge, die sich allein aus der Verantwortung ergibt: diese Tour ist keine, für die Peter, Jörg und ich uns zusammengefunden haben und sie gemeinsam unternehmen - es ist eine, die ich angeboten habe und für die sich Peter, Jörg und die beiden anderen angemeldet haben. Es ist von außen betrachtet eigentlich kein Unterschied - aber es fühlt sich innen deutlich anders an!

Es dauert zum Glück nicht übermäßig lange, bis ich mich wieder entspanne. Komischer Weise nimmt die Entspannung mit zunehmender Wellenhöhe immer weiter zu! Anfangs beträgt die Wellenhöhe einen guten halben Meter - mit vereinzelten Kavenzfrauen dazwischen, die auf einen dreiviertel Meter kommen. Aber nach zwei Dritteln der Strecke sind die meisten Wellen im dreiviertel Meter-Bereich und ziemlich viele einen Meter hoch. Auch diese gestiegene Herausforderung kann man am Geschwindigkeitsdiagramm ablesen: Wir werden im Verlaufe der Querung kontinuierlich langsamer - obwohl der Rückenwind immer weiter zunimmt! Das liegt bestimmt nicht an zunehmender Erschöpfung!

Wir fahren die ganze Zeit einen konstanten Kurs - eine Gruppe von Windrädern an Land im Visier, die so schön passend postiert ist, dass wir nie unter 150 Grad steuern. Gemäß meiner Ansage vor Beginn der Überfahrt bleiben wir auch dicht beieinander, so dass jederzeit eine koordinierte Rettungsaktion möglich wäre, sollte einer einen Krebs fangen.

Ich versuche die gesamte Zeit über, die mehr oder minder unstrukturierte Küstenlinie daraufhin abzusuchen, wo der westliche Eingang der Geltinger Bucht liegt. Erst sehr spät meine ich etwas passendes gefunden zu haben, dass überraschender Weise genau in unserem Vorauskurs liegt. Ich hatte damit gerechnet, dass wir eigentlich weiter östlich gesteuert hätten. Nur wenig nach meiner Erkenntnis macht mich Sabine auf seltsame Strukturen aufmerksam, die in genau südlicher Richtung liegen. Sie erinnern etwas an Hochhäuser, aber wir wissen, dass es in dieser Richtung keine gibt. Erst mit Näherkommen lösen sich die einzelnen Blöcke auf und man erkennt, dass es dicht zusammen stehende Segelmasten sind, die auf die Entfernung in Gruppen wie durchgehende Blöcke erscheinen. Das kann nur der Segelhafen von Gelting sein! Damit steht fest, dass wir ganz gehörig zu weit nach Osten gesteuert haben!

Was wir für die östliche Begrenzung der Geltinger Bucht gehalten haben, ist lediglich der Eingang in ein klitzekleines Noor innerhalb der Geltinger Birk. Die Begrenzungen der Bucht selbst sind mit dem bloßen Auge an der Horizontlinie überhaupt nicht als solche auszumachen! Wenn man sich die Seekarte ansieht, ist das auch nicht weiter verwunderlich: unser Kurs verläuft eigentlich die gesamte Zeit über parallel zur westlichen Uferlinie der Geltinger Bucht! Die Küstenlinie hat also praktisch überall denselben Abstand von uns - nirgends ein Punkt, ab wo die Linie nach hinten wegspringt! Für die letzten paar Minuten legen wir den Kurs deutlich nach Süden und haben den Wind damit genau von der Seite. Unsere Geschwindigkeit geht dadurch nicht merklich zurück.

Das Wasser vor Wackerballig ist immer noch so flach, wie bei unserer Abfahrt und nicht sehr viel kühler. Aber heute sind deutlich mehr Kite-Surfer unterwegs, durch die wir uns den Weg bahnen müssen. Selbst an Land rauscht der Wind immer noch so gewaltig, dass man den Eindruck hat, die Blätter wollen unbedingt nach Osten und bleiben nur, weil sie ihren Baum nicht mitbekommen. Beim Entladen der Boote muss Sabine feststellen, dass ihre vordere Gepäckluke randvoll mit Wasser gefüllt ist!

Heute ist die Parksituation hier nicht so entspannt wie am Freitag. Wir wollen noch ein kleines Eis essen gehen, machen aber vorher noch ein kleines Umpark-Manöver, damit jemand anderes schon mal unsere demnächst freiwerdende Parklücke nutzen kann. Es ist ein Kite-Surfer, der auch erfahrener Segler ist und gar nicht glauben kann, dass wir unter den Bedingungen mit so kleinen Booten von Sonderburg herüber gekommen sind. Wir sagen, dass die Boote schon sehr gut dafür geeignet sind - dass man es aber vorher üben sollte, wenn man es nachmachen möchte. Leider gibt es in ganz Downtown-Wackerballig keine einzige Möglichkeit, ein Eis zu essen :-|

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