Seit Stunden regnet es draußen. Und der vorhergesagte Wind bringt die nahen Bäume zum Rauschen. Es soll heute den ganzen Tag über mit sechs Beaufort aus Süd blasen. Keine Bedingungen, unter denen man voll Tatendrang aus dem Schlafsack in Freie springt. Jörg wusste, wovon er sprach, als er seine Zusage zum Wintercamping verweigerte. Trotz der frühen Stunde und des saumäßigen Wetters höre ich mehrere Spaziergänger an meinem Zelt vorbeigehen. Aber eigentlich höre ich keine Spaziergänger sondern nur Hundebesitzer: "Bruno! Lass das! Bruno!! Kommst du wohl her, Bruno!!!" Ich gehe allerdings davon aus, dass kein Mensch ohne Hund hier heute spazierengeht.
Meine Bewegungen sind auch heute morgen ausgesprochen langsam. Wenn ich es recht überlege, ist der Mensch doch im Grunde genommen auch nichts anderes als ein Fisch. Genau wie der, wird auch der Mensch bei niederen Temperaturen langsam. Der einzig wirkliche Unterschied ist vermutlich, dass der Mensch bei Kälte friert, während es dem Fisch ja egal sein kann, wie hoch seine Kerntemperatur gerade ist. Ein Fisch geht eben nicht ein wie sein aufrecht daher kommender Kumpel an Land, wenn das Fieberthermometer bei ihm weniger als 30 Grad anzeigt. Insofern sollten wir unser Gefühl der Überlegenheit unseren schuppigen Freunden gegenüber noch einmal überdenken.
Aufrecht setzen, weil dann das Denken leichter geht, Uhrzeit auf dem Handy checken. Acht Uhr - kein Empfang. Heute ist der 1. März - ich habe meinen Provider gewechselt, der neue funkt erst ab morgen. Vermutlich hat der Alte die Versorgung zum Ende des Monat eingestellt. Das ist etwas unschön, weil so die Option ausfällt, dass ich an beliebiger Stelle an Land gehen und um Abholung bitten könnte. So bekommen sechs Beaufort eine nochmal lähmendere Bedeutung.
Gnädiger Weise legt der Regen eine kleine Verschnaufpause ein, in der ich meine Sachen ins Boot packen kann. Bruno hat übrigens ein stattliches "Häufchen" direkt unter mein Heck gesetzt. Weil das Wetter so garstig ist und ich nachher ja noch gegen einen fiesen Wind werde fahren müssen, setze ich heute meine Ganzkopfneoprenhaube auf - die, die mich immer so attraktiv und sexy aussehen lässt. Man sieht auf der Wasseroberfläche scharfe Böen vom Steilufer herunterfallen. Auf dem Meer bilden sich dann große Flecken Gänsehaut, die wie planlos hektisch übers Wasser huschen. Manchmal spüre ich, wie eine Böe mir den Bug nach seewärts drückt. Das erinnert mich an einen Zwischenfall mit fatalem Ausgang bei Baffin Island im hohen Norden Kanadas. Dort wollten zwei im Paddeln relativ unerfahrene Pärchen fünf Kilometer die Küste entlang fahren. Sie starteten bei ölig glattem Wasser und wurden dann von starken ablandigen Winden überrascht. Am Ende gab es zwei Tote. Das kann heute nicht passieren - denn ich bin ja alleine! Aber ich werde den ganzen Tag immer wieder daran erinnert, immer wenn der Wind meinen Bug packt und ihn in eine andere Richtung drückt, als ich eigentlich paddeln möchte.
Es bevölkern - wie immer um diese Jahreszeit - unheimlich viele Wasservögel die Eckernförder
Bucht. Vor allem Eiderenten, aber auch die hübschen Eisenten. Die sind heute aber nicht in Schwärmen sondern nur einzeln oder als Paare unterwegs. Mehrere Male lassen sie mich bis auf weniger als dreißig Meter an sich heran, bevor sie auffliegen. Ich vermute, dass sie einzeln eine geringere Fluchtdistanz haben, als im Schwarm, der bereits immer dann auffliegt, wenn das ängstlichste Mitglied die Nerven verliert.
Am Bülker Huk gehe ich an Land und mache Pause. Ein Campingmobil-Insasse bitte mich, ihm seine Axt vom Strand mitzubringen und wir kommen etwas ins Gespräch. Heute sind nur noch die ganz Unentwegten hier, nicht wie im Sommer, wo man der gesamte Parkplatz ausgebucht ist. Knapp die Hälfte der Gesamtstrecke habe ich bis hierher geschafft, aber nun erst geht es wirklich gegen den Wind. Er bläst momentan zwar nicht mit Stärke sechs, aber arbeiten werde ich schon müsen, um nach Hause zu kommen. Das Queren des Fahrwassers muss ich wieder sehr auf die Berufsschifffahrt abstimmen. Kein leichtes Unterfangen, wenn man seine Geschwindigkeit nicht nach Belieben gestalten kann. Einen ersten Versuch muss ich abbrechen, weil ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob ich es noch vor dem in weiter Ferne herannahenden Frachter schaffen werde.
Bis Möltenort sind es fast zehn Kilometer, und das reicht, um abermals eine Pause verdient zu haben. Ich verdrücke meine letzte, eiskalte Banane zur Stärkung und besuche das stille Örtchen. Auch diese Erledigung ist keine leichte Aufgabe bei den geringen Temperaturen. Der Reißverschluss für solche Gelegenheiten in meinem Trockenanzug ist äußerst knapp bemessen und hat harte Kanten, so dass es für die kalten Hände eine echte Herausforderung ist, das zurückgezogene Zielobjekt zwischen den zahreichen kunstvoll ineinander verschachtelten Stoffschichten zu orten - und es dann auch noch in eine Position zu manövrieren, in der die Sache nicht buchstäblich in die Hose geht.
Während meiner Pause hat sich der Wind seiner Vorhersage besonnen und
dreht auf eine satte sechs auf. Als ich mich auf den Weg mache und mich dicht am Ufer entlangschleiche, werde ich von den Spaziergänger gnadenlos abgehängt. Ich kämpfe mich wacker gegen den Wind voran, aber bei der Querung der Förde geht meine Geschwindigkeit auf teilweise unter drei Stundenkilometer zurück. Ich versuche, mir mit Seufzen, Stöhnen und Fluchen Erleichterung zu verschafffen. Immer wieder rede ich mir ein "Ich komme voran!". Aber es ist schwer, daran zu glauben, wenn man am Schaum neben sich kein Fortkommen erkennen kann. Das einzige Mittel, das wirklich wirkt, ist, stoisch und mit Gleichmut sein Paddel mal links einzutauchen, mal rechts und dann wieder links. Möglichst nicht mit mehr Druck als man auch bei Windstille entfalten würde, aber unbedingt mit dergleichen Frequenz. Nach fünfeinhalb Stunden und sieben Blasen an den Händen erreiche ich den heimischen Steg. Immer noch in der irrigen Annahme, dass mein Provider sein Verhältnis mit mir beendet hat, gehe ich in die Vereinsgaststätte und rufe zu Hause an, damit ich abgeholt werde.
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