Seit morgens um sechs Uhr regnet es. Erst heftig, dann leicht. Trenk ist noch unruhiger als sonst beim Frühstück und verschwindet bald mit seiner Aufgabe zu Peter, der noch mal einen Blick auf seine Ausarbeitungen werfen soll. Meine Vier-Sterne-Übungsgruppe trifft sich zur Vorbesprechung des Tages. Es werden die ausgearbeiteten Touren kurz vorgestellt und jeweils kritische Fragen dazu gestellt. Die Fragen sind knapp wie: "Wie hoch ist die größte Geschwindigkeit des Tidenstromes in diesem Gebiet?", zielen aber jeweils auf einen entscheidenden Aspekt der Tour.
Wir starten heute von Rhoscolyn aus. Das ist eine kleine, sehr geschützte Bucht, die nur über eine einspurige Straße zu erreichen ist. Sie führt in gerader Linie von einem Haus zum nächsten, wo sie rechtwinklig abknickt und zum übernächsten Haus führt. So zickzackt sie sich bis zum Parkplatz am Strand. Wie man hier mit dem Trailer durchkommen soll, ist mir schleierhaft: jede Begegnung mit einem entgegen kommenden Fahrzeug ist ein Abenteuer und die Begegnung zweier Trailer vermutlich eine Katastrophe. Aber irgendwie gelingt es doch, dass die gesamte Gruppe inklusive aller Kajaks am Strand ankommt.
Wir teilen uns heute in noch kleinere Gruppen auf. Ich bin mit dem Deutschen Jochen und dem Briten Dan beim Holländer Axel als Coach. Es geht um das Thema Leadership. Die erste Frage ist, wie man eine Gruppe von Paddlern durch die Brandung hinaus aufs Wasser bringt. Dan weiß genauestens darüber Bescheid, dass der stärkste Paddler zuerst geht und dann der schwächste folgt. Ob er diesen Kurs schon einmal gemacht hat, will Axel wissen. Nein, aber er war schon mal in der Situation, in so einer Lage der schwächste Paddler gewesen zu sein!
Wir bekommen abwechselnd Führungsaufgaben, in denen wir besonders auf die Aspekte C-L-A-P achten sollen: Communication, Line of Visibility, Avoidance of Problems und Positioning. Wir hangeln uns so durch die Felsen, bis wir zu einer Stelle kommen, wo in einer ca. hundert Meter breiten Überfahrt zu der kleinen Insel mit dem Rhoscolyn- Richtfeuer drauf ein lebhafter Strom geht. Ich neige dazu, die Stromgeschwindigkeiten hier zu überschätzen. Ich vermute, das liegt an der relativen Kleingliedrigkeit der Landschaft verglichen mit der in der Nordsee. In unserer nordfriesischen Heimat ist alles so viel weiter und offener, deshalb wirkt dort ein Strom mit derselben Geschwindigkeit weniger beeindruckend. Als gutes Hilfsmittel zur Beurteilung erweist sich die Frage, ob man noch gegenan paddeln kann. Ist das ohne Mühe möglich, ist die Stromgeschwindigkeit unter drei Knoten.
Wir queren ein paar Mal zur kleinen Insel und zurück und nutzen die unterschiedlichsten Techniken. Am einfachsten fand ich die Methode, sich einfach einen Kompasskurs zu wählen, von dem man denkt, dass er den Stromversatz in etwa kompensiert, und diesen Kurs für die gesamte Querung beizubehalten. Hierbei hat man noch die einfache Möglichkeit, über die eigene Geschwindigkeit den Versatz zu beeinflussen.
Bei einer Querung lässt sich Axel ins Wasser fallen. Da ich es zuerst merke, übernehme ich die Rettung. Kurz nachdem wir weiterpaddeln, fallt er schon wieder rein. Damit ist klar, dass er geschleppt werden muss. Jochen ist im Moment unser Führer und will selbst schleppen, aber ich sage dass ich das übernehme und er uns weiter führt. Dan wird ebenfalls an die Leine genommen, damit er Axel stützen kann und verhindert, dass er wieder ins Wasser fällt. Diese ganzen Spielchen sind sehr einfach, aber sie sind auch sehr realistisch und finden unter wirklichkeitsnahen Bedingungen statt. Da sieht eben doch manches anders aus als im lauwarmen, ruhigen Hallenbad.
Axel sucht uns eine schöne Stelle, wo wir Rock-Landing praktizieren können. Er steigt zuerst aus und bringst sich und sein Boot auf den Felsen. Beim Incident-Management vergangenen Sonntag habe ich dieses Thema noch ausgelassen, als es darum ging, es selbst zu durchzuführen. Da es aber fester Bestandteil des Vier-Sterne-Trainings ist, bin ich gespannt, wie es sich anfühlt. Ich schmeiße mich ins Wasser und freue mich über meine Bugleine. In die konnte ich nämlich schon vorher meinen Karabiner der Schleppleine einklinken. Der Standard-Brite muss erst aussteigen, dann zum Bug seines Bootes schwimmen und dort den Karabiner einhaken. Dabei muss er natürlich auch sein Paddel gewissenhaft festhalten, da es ja nicht eingelascht ist. Ich löse nur mit einem Griff mein Paddel vom Boot und schwimme mit seiner Hilfe zum Felsen.
Das Schwimmen mit dem Paddel ist übrigens ausgesprochen effektiv. Insbesondere mit Trockenanzug ist normales Schwimmen mit seinem Boot im Schlepp nicht sehr wirkungsvoll. Am Felsen angekommen, muss man erst einmal einen sicheren Stand finden, was das auf- und abschwellende Wasser nach Kräften zu verhindern sucht. Man muss sich mit äußerstem Bedacht bewegen, damit man nicht von der nächsten Welle wieder ins Wasser gewaschen wird. Hat man sicheren Stand in etwas trockeneren Gefilden gefunden, gilt es, das Boot nachzuholen. Hier darf man nicht allzu empfindlich auf eventuell schrapende Geräusche reagieren, sonst hat man wenig Freude.
Auch beim umgekehrten Vorgang, vom Felsen wieder ins Wasser zu kommen, zeigt sich die Überlegenheit meiner Bugleine. Während der Standard-Brite daran denken muss, seine Schleppleine vom Bug zu lösen und sie in der Nähe des Cockpits wieder einschäkeln muss, weil er sie sonst nicht mehr lösen kann, kann mein Schäkel bleiben, wo er ist. Ich schicke mein Boot ins Wasser, springe hinterher und schwimme mit Hilfe des Paddels so weit vom Felsen weg, dass ich beim Wiedereinstieg nicht Gefahr laufe, mit ihm zu kollidieren. Und beim Wiedereinstieg empfinde ich auch meine Paddelleine als große Erleichterung. Mit einem Klick ist die Leine am Boot fixiert und ich kann mich in aller Ruhe unter Wasser im Cockpit zurecht setzen, ohne krampfhaft mein Paddel festhalten zu müssen.
Locker hochgerollt kommt der nächste Ausrüstungsgegenstand zum Einsatz, den man beim Briten vergebens sucht: meine Schenkelpumpe. Ich habe hier kein zweites Boot mit so einem Teil gesehen, selbst Trenk hat eine Handpumpe. Dafür ist meine Pumpe vielfach bestaunt, befragt und sogar fotografiert worden. Der Standard-Brite hingegen eiert zuerst einmal mit vollem Cockpit in ein ruhigeres Gebiet und - wenn er es denn erfolgreich bewerkstelligt hat - zieht seine Handpumpe unter den Decksgummis hervor, um damit durch die geöffnete Spritzdecke sein Cockpit zu lenzen.
Gestern, beim Thema "Personal Skills" hatte ich zwar Spaß, aber nicht wirklich etwas gelernt. Heute hingegen habe ich - trotz Axels sehr vorsichtigen Stils - unheimlich viel gelernt. Das deckt sich auch mit meiner bisherigen Beobachtung: Was Paddeltechnik und Bootsbeherrschung angeht, gibt es hier nur wenige Teilnehmer, die mir etwas vormachen können. Aber beim Thema "Leaderschip" gibt es noch eine Menge für mich zu lernen. Als uns Axel am Strand noch einige Hinweise für das Vier-Sterne-Assessment mit auf den Weg gibt und wir auf die Voraussetzungen für die Zulassung zu sprechen kommen, gibt Dan zu bedenken, dass er das Assessment noch nicht machen kann, weil er zu jung sei. Ich bin etwas irritiert, denn ich habe ihn auf Anfang zwanzig geschätzt und frage, was denn die Altersgrenze sei. Die liegt bei 16 Jahren - und Dan ist erst 15!
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