Samstag, 7. Juni 2014

Kieler Bucht - halb rund - Ostflanke (1/3)

Die Erde und das Universum waren dem Urknall noch 40 Jahre näher, als ich das erste Mal an Schleimünde vorbei hinaus in die unendlichen Weiten der Kieler Bucht segelte. Es war ein erhebendes Gefühl, das feste Land allmählich aus dem Blick verschwinden zu sehen bis wir schließlich rundherum nur noch von Wasser umgeben waren. Seitdem hat sich das Universum um gute vierzig Lichtjahre ausgedehnt - die Kieler Bucht hingegen ist um einiges geschrumpft.

Ich war davon ausgegangen, dass ich die seit mehreren Jahren angepeilte Querung von Bülk nach Ärö alleine unternehmen würde, aber nun ist überraschend Jörg mein Begleiter. Wir haben in den letzten Wochen gezielt darauf hin trainiert, lange Strecken zu fahren und halten uns für gut vorbereitet. Marie-Theres bringt uns mit unserem gesammeltem Trödel nach Bülk. Obwohl es noch recht früh am Tag ist - noch nicht einmal halb acht - gibt es bereits keinen freien Parkplatz mehr. Alle sind mit Camping-Mobilen belegt, die bereits mindestens seit gestern Abend hier stehen. Irgendwie ja schön, dass die Leute diesen Platz so mögen, aber irgendwie entsteht auch ein komisches Gefühl, dass er mittlerweile so überlaufen ist.

Obwohl wir nur eine Sommertour machen und entsprechend leichtes Gepäck verstauen müssen, dauert es bis viertel nach Acht, bis wir tatsächlich auf dem Wasser dümpeln. Ein wesentlicher Grund ist die um diese Uhrzeit noch verschlossen Toilette, ein Umstand, der umständliche Geländeerkundungen nach sich zieht.


Es herrscht erstaunlich frischer Nord- sprich Gegenwind. Das ist eher am oberen Ende dessen, was man aus der Vorhersage hätte herauslesen können. Es ist deutlich mehr, als mir gegen Ende meiner Unternehmung entgegenblies, als ich weiland von südlich Olpenitz nach Ärö gepaddelt bin. Damals hat mich dieser Gegenwind gehörig genervt und sehr an meinen Reserven gezerrt. Heute habe ich absolut keine Bedenken, dass wir es notfalls auch dann schaffen, wenn der Wind weder nachlässt noch seine Richtung zu unseren Gunsten ändert.

(auf diesem Bild ist ein Frachter versteckt!)
Die Sicht ist noch nicht überragend. Der Kieler Leuchtturm ist nicht zu sehen, und an manchmal nur
schemenhaft zu sehenden Frachtern kann man erkennen, dass noch Seenebel herrscht. Wir sind nicht in Sorge darüber, denn auf unserer Fahrtstrecke liegen keine Schifffahrtswege, die wir kreuzen müssten. Ich habe mein GPS sorgfältig programmiert - aber hier gibt es nicht viel zu programmieren, denn es liegen 43 Kilometer blaues Wasser vor uns mit wenig markierbaren Eigenschaften. Einzig genau in halber Entfernung zwischen Start und Ziel liegen zwei Tonnen - eine rot eine grün, wie sich das gehört. Allerdings sind beide fast zehn Kilometer voneinander entfernt und die gerade Linie unseres Kurses geht genau mittig zwischen ihnen hindurch. Es ist also nicht einmal sicher, ob wir diese beiden maritimen Markierungen überhaupt zu sehen bekommen.

Uns ist beiden klar, dass wir hier keine Rekorde bezüglich der Geschwindigkeit aufstellen können. Wir  müssen einen nachhaltigen Paddelstil entwickeln, wenn wir, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen, auf der anderen Seite des blauen Wassers ankommen wollen. Wenn man seeehr weite Strecken paddelt, bleibt einem einfach keine andere Wahl, als dass jeder seine "intrinsische Geschwindigkeit" fährt. Alles andere würde Geist und Körper einem ständigen Stress aussetzen, der die Unternehmung am Ende insgesamt gefährdet. Fährt einer schneller als der andere, ist der langsamere immer versucht aufzuschließen, der vordere ist (manchmal) versucht, seinen Rythmus zu unterbrechen und zu warten. Beides zerstört den Flow, der sich einstellt, wenn man inneres und äußeres Schwingen in Einklang gebracht hat. Daher wäre meine Taktik eher, gemeinsame Zeiten zu verabreden, nach denen man zu kurzen Pausen zusammenkommt, als dass man ständig versucht, die unterschiedlichen Tempi mit Gewalt zu synchronisieren. Jörg  und ich haben aber im Laufe der Jahre zum einen eine quasi identische Grundgeschwindigkeit entwickelt, zum anderen haben wir alle Rennen zwischen uns schon ausgetragen - und jeder weiß, dass er den anderen nicht unter den Tisch paddeln kann. So können wir also sowohl in jeweils innerem Einklang als auch in äußerer Eintracht nebeneinander schwingen. Unser Problem ist eher, dass die Ostsee zu schmal für uns beide ist, so dass wir uns manchmal zu dicht kommen und sich unsere Paddeln miteinander verhaken. Aber auch dieses Problem bekommen wir mit zunehmender Schwingungsdauer immer besser in den Griff.

Die Sicht ist kontinuierlich klarer geworden, wir können die Steilküste von Stohl ständig hinter uns erkennen. Schwansen im Westen ist ebenfalls gut zu sehen, und als wir nach zwei Stunden unsere erste kurze Pause einlegen, ist Ärö im Norden vor uns auch bereits auszumachen. Nur nach Osten ist kein Land zu erkennen - dort haben wir tatsächlich so etwas wie offene See. Schiffsverkehr findet keiner statt, nur ab und zu sieht man mal ein Segelboot unseren Kurs queren, keines nah genug, dass man der Besatzung in die Augen blicken könnte. Der Wind lässt immer weiter nach, die Wellen zwingen uns zwar noch dazu, uns während der Pause gegenseitig zu stabilisieren, sind aber klein genug, dass wir die Spritzdecke offen lassen können. Heute wäre Helgoland-Wetter - aber auf der Nordsee herrschen heute andere Verhältnisse.

Das Nachlassen des Windes geht soweit, dass die Ostsee schließlich eine Cellophanoberfläche hat, die ölig auf und ab schwellt. Unser Ziel zeigt mittlerweile schon deutlich mehr Strukturen als nur ein milchig blasses Etwas auf dem Rand der Kimm. Aber es ist uns bewusst, dass das vermeintlich schnelle Näherkommen irgendwann umschlagen wird in ein verbissenes Wehren gegen die Annäherung. Vorerst sind wir hoch zufrieden mit unserer Vorstellung und schätzen unsere Geschwindigkeit auf annähernd sieben Kilometer pro Stunde. Demnach müssten wir uns nach vier Stunden in etwa auf der Mitte zwischen den beiden Fahrwassertonnen befinden. Wir machen die zweite Pause und halten nach den beiden Blechkameraden Ausschau. Es herrscht fast wolkenloser Himmel und immer noch absolute Windstille, gegenseitiges Festhalten wäre nun vollkommen übertrieben. Schon während des Paddelns zeigten sich immer wieder Fische in unserer Nähe, nun sieht man überall die Rückenflossen grätenführender Genossen die glatte Oberfläche stören, irgendwann zeigt sich der erste Schweinswal. Wir müssen unsere Pause direkt in deren Wohnzimmer gelegt haben, denn nach und nach tauchen überall ihre Rückenflossen auf. Sie kommen nicht nur flüchtig aus dem Wasser und tauchen wieder unter, nein, sie nutzen die gute Gelegenheit, tauchen auf, verharren dümpelnd an der Oberfläche und lassen sich die wohlig wärmende Sonne auf den nicht vorhandenen Pelz brennen.

Wir sind hier genau mitten im Nirgendwo, zurück wäre genauso weit wie voran. Aber die Kieler Bucht erscheint mir nicht mehr als endlose Weite, sondern ist zu einem ohne große Mühe und Risiko mit dem Kajak zu befahrenden Gewässer zusammengeschnurrt. Wir sehen an drei Seiten des Horizontes Land: Dänischer Wohld, Schwansen, Alsen, Ärö und Langeland sind ohne Probleme zu erkennen und zu erreichen. In dem um 40 Lichtjahre kleineren Universum hätte ich das nie für möglich gehalten! Was Training, Erfahrung und gereifte Technik vermögen, ist ausgesprochen faszinierend.

Jörg macht sich etwas Sorgen um sein linkes Daumengrundgelenk. Es besteht noch kein Problem, aber es macht sein Unbehagen über die aktuelle Belastung bemerkbar, und wir wollen ja auch noch die kommenden Tage ausgiebig paddeln. Wir werden dem Unbehagen Rechnung tragen müssen.

Die letzten drei Stunden ist Ärö praktisch zum Greifen nahe. Aber die Tatsache, dass die Pfeiler aller drei Windräder an unserem anvisierten Landeplatz noch im Wasser zu stehen scheinen, sagt uns, dass da noch ein Teil der Insel unter dem Horizont liegen muss und wir noch nicht gar so dicht am Ziel sein können. Nachdem die Windräder schließlich allesamt auf dem Trockenen stehen, könnte man die Entfernung auf wenige hundert Meter schätzen - wenn da nicht die klitzekleinen Segelyachten wären, die vor der Insel herumkreuzen. Wenn das keine Modellboote sind, wird es wohl immer noch weiter weg sein, es es nach unserem Bedarf der Fall sein müsste. Beharrlicher und bestimmungsmäßiger Einsatz der Paddelblätter lässt schließlich einige rosa Stifte auftauchen: die ersten Badegäste am Strand sind auszumachen! Nach genau sieben Stunden Fahrt erreichen wir stolz und glücklich den Übernachtungsplatz an den drei Windmühlen.

Der Strand ist ein "Naturist Strand", d.h. dass man hier ohne Textilien rumläuft. Wir schließen uns dem Trend an - nicht unbedingt aus Überzeugung sondern eher aus der schlichten Tatsache, dass wir keine Badehosen dabei haben und nehmen ein erfrischendes Bad in der Ostsee. Nachdem ein Linienbus schließlich die dänischen Naturisten abholt, sind wir praktisch alleine auf  unserer Zeltwiese.Unser Abendessen zelebrieren wir an der Tisch-Bank-Kombination des benachbarten Parkplatzes - ein Luxus, der sehr zur Entspannung der müden Muskeln beiträgt. Aufgrund des langen Tages ist es nicht verwunderlich, dass wir bald in unsern Nylonhütten verschwinden, um im fauchenden Rauschen der Windräder in die verdiente Nachtruhe zu gleiten.

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