Samstag, 18. Dezember 2010

Winterpaddeln

Nach einer langen Pause bin ich heute mal wieder aufs Wasser gekommen. Dieser Winter läuft paddeltechnisch nicht optimal. Das Wetter ist entweder allzu widrig oder ich habe keine Zeit oder ich bin krank. Diesen Umständen ist es auch geschuldet, dass ich eine Jahresabschlussfahrt immer noch nicht machen konnte. Aber heute sind alle Unebenheiten geglättet und ich habe mich mit Jörg und Sabine zum Paddeln verabredet.

Die Boote zum Steg zu schaffen ist wieder sehr einfach, weil der Weg dorthin fast vollständig dick mit Schnee bedeckt ist. Nur direkt an der Kiellinie ist allzu gut geräumt, so dass man sie ein paar Meter tragen muss. Der Steg ist natürlich auch dick verschneit und man muss höllisch aufpassen, das man beim Einsteigen nicht direkt in die Förde glitscht.



Wir sind dick eingepummelt und nehmen uns vor, nicht allzu schnell zu paddeln, damit wir nicht über die Maßen in Schweiß kommen. Man muss übrigens wissen, dass rote Tonnen im Winter ziemlich weiß sind, ebenso wie grüne, wobei die grünen noch grüner sind als die roten rot. Die Ufer sind romantisch weiß und es herrscht eine unglaubliche Stille. Keine Schiffe auf dem Wasser, keine Spaziergänger an Land. So als  wären alle am letzten Samstag vor Weihnachten noch einmal unterwegs, die restlichen Geschenke kaufen oder Glühwein nachtanken. Wir freuen uns drüber.



Im Windschatten des Friedrichsorter Leuchtturmes machen wir kurz Pause und lassen und den heißen Tee und den Honigkuchen schmecken. Aber schnell kriecht die Kälte durch die kleinsten Ritzen und vertreibt die Behaglichkeit aus dem Trockenanzug. In Bewegung war uns warm, aber hier kann man es nicht mehr länger leugnen: die Lufttemperatur ist minus vier Grad. Da werden die ungeschützten Hände im Nu eiskalt. So bleibt die Pause nur von kurzer Dauer und es braucht ein paar Meter in Wallung, bevor uns wieder einigermaßen warm ist.


Auf der Rücktour kommt sogar die Sonne für drei Sekunden hinter den Wolken hervor - kurz bevor wir einem Frachter, der aus der Kanalschleuse ausfährt, die Vorbeifahrt ermöglichen müssen. Mit der Color Fantasy, die uns kurz vor Schluss unserer Fahrt noch entgegenkommt, waren dies die beiden einzigen Schiffe, die auf der Förde unterwegs waren. Das Weihnachtsgeschäft ist im Schiffsverkehr wohl längst abgewickelt.An Sabines Mütze haben sich Einzapfen gebildet und alle Aufbauten unserer Boote sind dick mit Eis überzogen.



Das Wasser ist dieses Jahr schon verdammt früh sehr kalt: 2 Grad hat es noch. So kalt ist es sonst erst im Januar, in milden Jahren nie. Ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, bis das erste Eis auf der Förde auftaucht. Aber heute will ich noch kurz eine Rolle machen, um mal zu sehen, wie sehr denn zwei Grad so in die Stirn beißen - und wie gut mein Trockenanzug bei solchen Temperaturen ist. Jörg und Sabine halten sich vornehm zurück und sind voller Respekt, dass ich so tapfer bin. Aber nachdem ich mich ins Wasser geschmissen habe, kurz unterm Boot hänge und hochgerollt bin, finde ich es eigentlich etwas zu harmlos, mit einem pottendichten Anzug und eng anliegender Neoprenhaube solche Spielchen zu machen. Ein ausgesprochen beruhigendes Gefühl, auch in einem Unglücksfall fern der Heimat nicht soviel Wärme verlieren zu müssen, das ein Nach-Hause-Paddeln schwerlich möglich wäre. Bleibt nur die Frage, ob sich der Unglücksfall immer rechtzeitig genug ankündigt, damit ich hinreichend Zeit habe, meine Neoprenhaube aufzusetzen!

Montag, 11. Oktober 2010

„Zu den Bäumen!“ oder „Letztes Jahr war da Sand!“

Bis über beide Ohren verliebt paddle ich auf meinen neuen Schwarm zu. Beseelt von ihrer Schönheit und Anmut beobachte ich, wie sie aufrecht auf der Anhöhe steht, ihren Blick übers Weit schweifen lässt und in einer ans Meditative gemahnenden Langsamkeit den ganzen Horizont bestreicht. Leuchttürme müssen weiblicher Natur sein, wie sonst könnte mich diese hier so in ihren Bann ziehen? Das Feuer von Skjoldnäs ist es, das mir hier die Sinne betört, wie gemalt steht es da, wie der Leuchtturm von Lummerland, wie der Archetyp seiner Gattung. Die beiden seitlich in den Dunst der Dunkelheit geworfenen Lichtkegel zusammen mit dem umlaufenden - nein umkriechenden Leitstrahl erzeugen einen emotionalen Magnetismus, dem sich keiner von uns entziehen kann. Als wäre sich der Turm dieser Wirkung bewusst, posiert er auf dem Hügel in der sicheren Erwartung, von uns aus allen Winkeln fotografiert zu werden.

Doch hier bekommt die Geschichte einen kleinen Schönheitsfehler. Denn leider ist mein treuer Fotoapparat seit meiner letzten Tour erst ab- und dann nicht wieder aufgetaucht, so dass er nicht als glaubwürdiger Zeuge Bilder dieses schier unfassbaren Anblicks beisteuern kann. Natürlich haben meine beiden Mitfahrer darauf gebaut, dass ich als verlässlicher Chronist schon für das zugehörige Equipment sorgen würde. So bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als mit Worten den dicken Pinsel zu schwingen und den Erlebnissen und Eindrücken einen physischen Niederschlag zu verleihen, der über die Zeit weder blasser noch krasser wird.

Wie sind wir hier her gekommen? Nun, das war nicht einfach. Die Herbsttour der vier „Unerschrockenen“ stand an. Einer muss sich momentan eher um den Aufbau und Fortbestand der Gesellschaft kümmern, so dass er leider nicht teilnehmen konnte. Die anderen drei haben sich auf eine Umrundung der Insel Ärö verständigt. Nach quälenden Wochen schlechten Wetters sollte für den Termin unserer Unternehmung alles zum Besten bestellt sein: Das gesamte Wochenende niederschlagsfrei, sonnig bei moderaten Herbsttemperaturen. Wind durchgängig aus östlichen Richtungen. Klang gut, aber das mit dem Wind hätte man doch noch etwas besser arrangieren können.

In Mommark am Start zerrten die Flaggen stramm an ihren Masten. Fünf Beaufort genau von vorne, da biss die Maus keinen Faden ab. Mein Gott - gute zehn Kilometer und die Sonne scheint. „Unerschrocken“? Da kann uns so etwas ja wohl höchstens ein müdes Lächeln abringen. Wenn der Wind seit Tagen aus mehr oder minder derselben Richtung über eine freie Wasserfläche von über zehn Kilometern Länge bläst, kann man mit einigem Recht eine Welle in gefälliger Höhe und Ebenmaß erwarten. Dieses Recht gilt auf dem kleinen Belt nicht! Als Ingenieur und an weltliche Ursachen glaubender Mensch, habe ich auch eine einigermaßen plausible Erklärung parat: Der östliche Wind erzeugt auf dem Belt zwar Wellen in seiner eigenen Richtung, zusätzlich laufen aber durch die Gatten zwischen den Inseln auch noch Wellen aus dem Inneren der dänischen Südsee schräge herein. Zuletzt rollen dann auch noch die Wellen der offenen Ostsee an der Südküste von Ärö entlang in dieses Seegebiet, so dass sich in der Summe ein wunderschönes Chaos ergibt, in dem keine Sekunde lang die Gefahr besteht, dass man sich an einen Rhythmus gewöhnen müsste.

Das ist es, was ich will! Wind und Gischt im Gesicht, Sonne am Himmel und im Gemüt und die Aussicht auf ein paar Tage in der freien Natur. Und wenn ich in die Gesichter meiner Mitfahrer sehe, geht es ihnen nicht anders. Zugegeben, die Boote bewegen sich nicht von alleine in die gewünschte Richtung, aber die von allen Seiten kommenden, bis einen Meter hohen Wellen zu durchpflügen, zu durchplumpsen, seitlich an ihnen herunter zu rutschen und sich von ihnen emporheben zu lassen, das ist das pure Vergnügen. Die Sicht ist diesig und Ärö ist erst nach etwa einer halben Stunde als blasse Ahnung zu erkennen. Nach einer dreiviertel Stunde verkündet Jörg die Sichtung des Leuchtturms. Und natürlich wird die Ansicht der Insel immer detaillierter, aber zwei Tatsachen sorgen dafür, dass unser Vergnügen länger dauert, als wir erwartet haben. Zum einen dreht der Wind immer mehr auf, so dass er schließlich sechs Beaufort erreicht, zum anderen zieht jemand kontinuierlich am anderen Ende der Insel, so dass sich der Abstand zu ihr eine verdammt lange Zeit nicht die Bohne verkleinert. Beide Umstände bescheren uns zusammen mit der hereinbrechenden Dunkelheit die Gelegenheit, diesem wunderschönen Leuchtturm über Gebühr lange bei seiner Arbeit zusehen zu dürfen.

Der Strand direkt unterhalb des Leuchtturmes sieht nicht einladend aus und oberhalb ist auch keine standesgemäße Zeltmöglichkeit zu erkennen. Ich weiß von meiner Unternehmung im letzten Jahr, dass direkt hinter der Nordspitze ein Flach existiert, wo es geschützte Zeltmöglichkeiten gibt und wo auch ein Sandstrand zum Anlanden vorhanden ist. Zugegeben es ist mittlerweile deutlich nach sieben - damit also wirklich dunkel - und hinter der Nordspitze der Insel sind wir dem Sechser-Wind gnadenlos ausgeliefert, aber der Abend ist noch jung und wir sind zum Paddeln hier und nicht, um uns in der erstbesten windgeschützten Ecke zu verstecken.

Leider ist das Flach doch weiter von der Nordspitze entfernt, als ich es in der Erinnerung abgespeichert hatte und außerdem müssen wir einen erklecklichen Sicherheitsabstand vom Ufer halten, um nicht von der Brandung gefressen zu werden. So wird das „eben mal um die Ecke“ paddeln eine ausgesprochen anspruchsvolle Angelegenheit. Jörg fährt so dicht neben mir, dass trotz des tosenden Windes fast so etwas wie Verständigung möglich ist. Wo ich denn hin will, ist seine Frage nach einiger Zeit. „Zu den Bäumen!“ meine Antwort, mit der er sich auch vorerst zufrieden gibt. Wir müssen zuerst die Spitze des Flachs umrunden und dann an seiner Ostseite entlang fahren. Natürlich ist das Wasser auch in erklecklicher Entfernung vor der Spitze noch flach und damit Garant für große brechende Wellen. Bevor wir uns ihm nähern, kommen wir noch einmal dichter zusammen, denn trotzdem uns der Schein des Leuchtturmes von Zeit zu Zeit aus dem Dunkel aufleuchten lässt, verliert man sich schnell aus dem Blick. Als direkt vor der Spitze eine besonders große und steile Welle auf mich zurollt und ich mehr als schulmäßig in sie hineinstütze, weil ich auf jeden Fall ein Hinabkullern auf der falschen Seite verhindern will, weiß ich, dass der sorglose Spaß-Modus vorbei ist. Wenn hier einer wegtaucht, kann sich das zu einem ernsthaften Problem auswachsen.

Nach der Kehre haben wir die Wellen schräge von hinten, auch das will mit Bedacht gehandhabt sein. Jörg kommt wieder mit seiner Frage längsseits, wo ich denn hin will. „Zu den Bäumen!“ ist immer noch meine klare Antwort. Es ist Nacht und es ist Neumond und man sieht eigentlich nur zwei Dinge: In unmittelbarer Nähe weiß schäumende Wellen und in einiger Entfernung sich tiefschwarz gegen den mattschwarzen Himmel abhebend - überall Bäume. Jörg ist mit meiner Auskunft noch nicht vollends zufrieden und wir kommen ins Gespräch. Während ich versuche, ihm meinen Plan näher zu bringen, arbeiten die Wellen stetig daran, uns der Brandungszone näher zu bringen. Irgendwann sehe ich einen Brecher auf uns zurollen und bitte Jörg, sich seewärts davon zu machen, damit er nicht über mich rollt und ich selbst stützen kann. Jörg kommt gerade noch weg, aber ich mache die Rüttelnummer nach rechts. Als ich zum Ufer blicke, bin ich geschockt, wie dicht es ist und überlege einen kurzen Moment, blitzschnell die Biege zu machen. Aber es ist zu spät und „blitzschnell“ mit schwerem Boot ist schwierig. Ich hätte meinen Nachen nie rechtzeitig herum bekommen und wäre dwars auf einen Strand unbekannter Konsistenz gespült worden. So entscheide ich mich für die andere Möglichkeit, spitz auf das Ufer zuzulaufen, das Beste draus zu machen und ebensolches zu hoffen. Zwar ist die Landung nicht gerade behutsam zu nennen, aber über die Beschaffenheit des Untergrundes kann man nicht meckern: es ist überwiegend sandig, leider eingelagert ein gerüttelt Maß faust- bis kopfgroßer Steine.

Nicht, dass wir es gewollt hätten, aber der Platz, an dem wir angelandet sind - oder sollte ich sagen, an dem es uns ans Ufer gespült hat? - war schon optimal gewählt. Keine zwanzig Meter weiter fehlt der Sand zwischen den faustgroßen Steinen. Auch in die andere Richtung sind die Verhältnisse eher schlechter als besser. Da ich felsenfest davon überzeugt bin, dass „bei den Bäumen“ ein lieblicher Sandstrand ist, stolpern wir noch eine ziemliche Strecke durch die Dunkelheit am Ufer entlang. Was sich unserem Auge im Schein meiner Stirnlampe hier bietet, lässt uns dankbar sein für die Entscheidung der Brandung, uns ans Ufer zu spülen: Von Sand nirgendwo eine Spur! Jede Anlandung an einem anderen Ort hätte in einer Katastrophe gemündet!

„Ich sag doch: letztes Jahr war da Sand!“

Natürlich trägt das Flach seinen Namen nicht umsonst und gäbe es Windschutz, würde es nicht so heißen! Zeltaufbau bei strammem Wind in absoluter Dunkelheit dauert etwas länger. Irgendwann fällt das Licht der Stirnlampe auf meine Hände. Was ich da sehe, verwirrt mich zunächst und es besorgt mich auch etwas: Sämtliche Knöchel beider Hände sind ziemlich blutig. Nach kurzem Grübeln ist mir klar, dass das der Preis dafür war, dass ich unter den geschilderten Verhältnissen mit einem trockenen Cockpit aus dem Wasser gekommen bin: Ich habe mich mit den Fäusten so lange am Strand abgedrückt und nach vorne geschoben, dass ich meine Spritzdecke gefahrlos öffnen konnte, ohne dass mir das Cockpit bis zum Anschlag geflutet wurde. Prima Idee eigentlich. Keine ganz so gute Idee, wenn der Strand mit Muscheln, Schnecken und spritzen Steinen übersät ist. Zum Glück war es ja dunkel, so dass ich nichts gesehen und das Wasser kalt genug, dass ich nichts gefühlt habe. Allerdings werden mir die Knöchel noch die ganzen nächsten Tage weh tun.

Einer der faszinierenden Umstände in unserer Kleingruppe ist die Tatsache, wie schnell wir uns bei geänderten Umständen auf einen neuen Plan einigen. Wobei „einigen“ die Sache nicht wirklich präzise trifft: Einer spricht aus, was sich die anderen auch eben gedacht haben und schon ist der Plan fertig! Der Wind weht heute Morgen mit vier bis fünf Beaufort aus Nordost und ein Stampfen gegen ihn und die Wellen auf der Nordseite würde kaum Spaß aufkommen lassen. So wird die geplante Umrundung Ärös im Uhrzeigersinn ohne große Diskussion in ein Entlangpaddeln an der Südküste umgewandelt. Wir arbeiten uns dicht unter der Steilküste ans Ufer geschmiegt nach Süden vor, peinlich darauf bedacht, den Windschutz durch die Klippen auszunutzen, bis wir einen wunderbaren Übernachtungsplatz unter fauchenden Windrädern finden. Unterwegs begegnen wir einem Eingeborenen von Ärö, der mit einem mir bislang unbekannten Kajaktyp eine andere Strategie verfolgt als wir: „Wo geht’s hin?“ „With the winds.“ „Und wie zurück?“ „I will phone someone.“

Die Kleingruppe


Unser Rückweg am Sonntag wird nur noch von zwei bis drei Beaufort Wind unterstützt. Das gibt nicht mehr die schönen Wellen, gegen die wir auf der Hinfahrt angekeult haben, aber wir sind dankbar für diese leichte Hilfe. Die Tour lässt uns auch ohne Fotoapparat mit Bildern erfüllt zurück. Aber sie hat auch zwei offene Enden erzeugt, die irgendwann geschlossen werden wollen: Zum einen ist da die Umrundung Äros, die eine reizvolle Tour verspricht, wenn einem nicht der Wind wie diesmal allzu garstig ins Gesicht bläst und zum anderen und vor allem: Die wunderbare Leuchtturm bei Nacht zu fotographieren!

Samstag, 28. August 2010

Zweite Leuchtturmfahrt 2010

Samstag, 28. August


Mehr Bilder

Wie schon im letzten Jahr habe ich auch dieses Jahr wieder eine Leuchtturmfahrt parallel zur Schwentinewanderfahrt im Verein angeboten, die nicht so arg lang sein sollte. Daher habe ich als Startpunkt die Badeanstalt in der Heikendorfer BUcht gewählt. Das spart gute zehn Kilometer gegenüber einem direkten Start von unserem Bootshaus aus.

Dieter vom Nachbarverein und Klaus-Peter wollen mich an diesem sonnigen Samstag Morgen begleiten. Das Wetter ist entgegen den Erwartungen überraschend sonnig, aber der Wind ist so wie angesagt. Es weht recht konstant mit einer mittleren Fünf aus West bis Nordwest. Das stimmt mich ganz zuversichtlich, denn die Stärke können wir ganz gut handhaben und die Richtung bürgt dafür, dass wir für die Rückfahrt bei nachlassenden Kräften eine gute Unterstützung haben. Die knapp zehn Kilometer bis Bülk sind in anderthalb Stunden bewältigt. Hier machen wir kurz Pause und blicken uns tief in die Augen, ob wir die Überfahrt tatsächlich antreten wollen.

Der Himmel ist immer noch makellos blau und der Wind hat sich sogar etwas gelegt, so dass er während unserer Pause nur noch mit vier Beaufort weht. "Das sollte machbar sein.", ist die einhellige Einschätzung.

Als wir Bülk deutlich hinter uns gelassen haben und der Blick auf die weite Ostsee frei wird, sehen wir gleich, dass in weiter Ferne bereits Regenwolken aufgezogen sind. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass sie uns erreichen, aber eben auch eine kleine, dass sie an uns vorrüberziehen. Nicht dass wir den Regen fürchten würden, aber Regenschauer bedeuten eben auch immer größere Windgeschwindigkeiten und Böen. Da wir nur zu dritt und sichere Paddler sind, wollen wir unsere Chance nutzen.

Die Wellen während der Überfahrt sind bis einen Meter hoch aber gutmütig und es macht Spaß, in ihnen zu fahren. Allerdings werden wir durch Wind und Strömung kräftig nach Osten versetzt, so dass ich mit 30 Grad einen gehörigen Vorhaltewinkel fahre. Leider zeigt sich bald nach der Kabeltonne, dass die Front natürlich nicht geräuschlos vorüberzieht sondern uns demnächst erreichen wird. Als sie dann eintrifft, steigt die Windstärke auf sechs, so dass wir mit der Nase direkt in den Wind gehen, damit wir uns nicht so sehr um das Aufrechtbleiben kümmern müssen. Wenn es sich um eine einzelne Front gehandelt hätte, mag es Sinn gemacht haben, diese abzuwettern und dann im folgenden Lull weiterzufahren. Aber der Blick an den fernen Himmel zeigt deutlich, dass mit dem schönen Wetter von heute morgen Schluss ist und die nächste Front nicht lange auf sich warten lassen wird. So steht also mein Entschluss fest: Bülk ist der nächste Leuchtturm, den wir anlaufen.


Natürlich wütet die Front nur genau so lange, bis wir im Windschutz der Küste sind. Aber so können wir unsere ausgiebige Pause wenigstens im strahlenden Sonnenschein verbringen. Als es dann wieder ungemütlich wird, schlüpfen wir in unsere getrockneten Sachen und machen uns auf den Rückweg. Noch ein paar durchziehende Fronten beglücken uns mit steifem Wind und ergiebigem Regen mit dicken Tropfen. Aber wir sind so gut dabei, dass wir uns entschließen, nicht bereits in Heikendorf an Land zu gehen, sondern direkt zum Vereinsheim zurückzufahren. Zwar unterstützt uns der Wind wie erhofft, aber leider hat er doch in der Stärke etwas gegenüber dem Vormittag nachgelassen.

Heute ist "Extreme 40"-Regatta direkt vor unserem Vereinssteg. Das kenne ich schon vom letzten Jahr, da kann man nicht einfach hinpaddeln, sondern muss ich mit den Begleitbooten abstimmen und einen günstigen Zeitpunkt abpassen. Als wir uns dem Regattafeld nähern, spreche ich die Besatzung eines Rettungsbootes an, aber die haben keinen Funkkontakt zur Rennbegleitung wie erhofft. Da sich niemand um uns kümmert, fahren wir eben auf eigene Faust dicht an die Kaimauern geschmiegt zu unserem Steg. Etwas lax die Absperrung dieses Jahr für meine Begriffe. Schwieriger als das Passieren der Rennboote erwies sich dann der Transport der Boote durch die Zuschauerreihen, die die Katamarane beobachten und natürlich für nichts anderes Augen hatten. Es hat mich überrascht, wie rege der Besuch dieser Veranstaltung war, obwohl das Wetter alles andere als einladend war. So ist er eben der Kieler: regendicht und wassersportbegeistert!

Sonntag, 4. Juli 2010

Hooge bei Hitze


Die "Gang of Four" ist für dieses Mal auf zwei Nasen zusammengedampft. Die beiden Fehlenden gehen mit anderen Projekten schwanger. Das ist zwar schade, ficht Jörg und mich aber nicht wirklich elementar an. Es ist ein heftiges Hitzehoch für das Wochenende angesagt mit wenig Wind. Das hat uns in der Absicht bestärkt, die Tour südlich um den Süderoogsand herum durchs Rummelloch nach Hooge zu wagen. Das sind über 50 Kilometer und daher kein Pappenstiel.


Ich reise am Freitag abend gemütlich mit der Nordostsee-Bahn nach Husum an, wo Jörg mich abholt und wir gemeinsam nach Holmer Siel fahren. Jörg hat noch von unserer letzten Tour den ausnehmend unfreundlichen Wirt des dortigen Bistros in unguter Erinnerung. Der wollte damals die Polizei holen, wenn wir unser Auto dort stehen lassen würden. Doch die Pächter haben vor zwei Jahren gewechselt und unsere freundliche Nachfrage, ob es denn erlaubt sei, sein Fahrzeug hier über Nacht stehen zu lassen, wurde nicht nur ebenso freundlich bejaht - man war sogar ganz froh darüber, dass jemand nachts ein Auge auf ihre Anlage werfen würde. So geht es doch auch!

Ich verbringe die Nacht unter freiem Himmel, denn die Wetterlage ist trocken, warm und stabil. Allerdings streunt in der frühen Nacht ein Hund um mich herum. Ich fühle mich in meinem Schlaf belästigt und möchte nicht, dass das Tier mir quer durchs Gesicht leckt, erkenne aber bald, dass es gut erzogen ist und von zwei Polizisten gefolgt wird. 'Mist!', denke ich noch, bevor ich den wenig überraschenden Satz höre: "Das ist kein Übernachtungsplatz hier!". Ich weiß, dass ich mit Rechtfertigungen keine Chance habe und versuche lieber, unsere Lage zu erklären. Leider fehlt mir etwas die Eloquenz, weil ich nicht wirklich wach bin, aber das verleiht mir immerhin eine ungemeine Glaubwürdigkeit.

Den Anwürfen "Muss das denn hier sein?" und "Das ist aber gefährlich!" bringe ich einige Fakten von Tide und Strömung und "Wir wissen, was wir tun!" entgegen - immer in der Unzufriedenheit, nicht so schneidend zu argumentieren, wie ich es könnte, wenn ich nur wach wäre. Inzwischen spüre ich aber schon das Dilemma der beiden recht jungen Polizisten. Sie verspüren einerseits eine gewisse Sympathie für unsere Unternehmung, andererseits müssen sie aber die Ordnungsmacht raushängen lassen und können unser Fehlverhalten nicht unkommentiert hinnehmen. Sie haben aber bisher noch nicht einmal ansatzweise einen verscheuchenden Imperativ benutzt, sondern eher Fragen gestellt und mich auf unsere Ordnungswidrigkeit aufmerksam gemacht, so dass ich mir recht sicher bin, dass wir hier bleiben können. Ich weise sie noch ungefragt darauf hin, dass wir in aller Herrgottsfrühe verschwunden sein werden, weil wir ja der Tide gehorchen müssen.

Kurz nachdem sie mit einigen ermahnenden Worten grummelnd abgezogen sind, wache ich auf und sehe ein Auto wenden und wegfahren. Leider kann ich nicht erkennen, ob es sich um einen Polizeiwagen handelt. Den Rest der Nacht grübele ich darüber, ob ich geträumt habe oder die Polizei wirklich da war.

Irgendwann morgens wache ich auf - oder besser gesagt - öffne ich die Augen und blinzele nach der Uhr. Der große Zeiger steht auf der Neun, der kleine ist leicht gegenüber der Linie zwischen Zwölf und Sechs geneigt. 'Viertel vor sieben'. ....... 'Viertel vor sieben?'. .......'VIERTEL VOR SIEBEN! MIST MIST MIST!'. Um sieben wollten wir ablegen. Das wird knapp nun! Ich setze mich senkrecht. In dieser Lage denkt es sich leichter. Es ist schon hell und warm, aber das Zentralgestirn ist noch nicht zu sehen. Sonnenaufgang ist um fünf. Es dauert eine Weile, bis ich die Tatsachen sortiere und herausfinde, dass geneigt gegen die senkrechte Linie auf der Uhr auch heißen kann 'Viertel vor fünf'! Mein Inneres entspannt sich und ich verbringe die nächsten zehn Minuten mit Aufwachen. Aufgrund der zu dieser frühen Stunde schon hohen Temperaturen geht der Grad meiner geistigen Retardiertheit leider nur sehr langsam zurück.

Bei einer derart langen Tour kommt der Sorgfalt beim Frühstück eine besondere Bedeutung zu. Ich vertraue der magischen Macht meines Müslis. Müsli - das Geheimnis des erfolgreichen Seekajakfahrens, die Grundlage langer und gefährlichen Unternehmungen, Müsli - das Löwen die Kraft verleiht, Krähen den Witz und lange Touren um Meilen kürzer werden lässt. Es wird mich auch heute mit Schub und Schwung versorgen.

Wir brauchen heute etwas länger als üblich, um in den Booten zu sitzen. Um halb acht schaukeln wir vor dem Strand von Holmer Siel. Die Nordsee ist gut gefüllt und unser Ziel liegt südlich, so dass wir wie so oft naiv den direkten Weg nehmen und wie so oft und nicht anders erwartet bald in so flachem Wasser stecken, dass wir eine gehörige Heckwelle hinter uns herziehen und geläutert nach Westen abdrehen. Im Fahrwasser der Norderhever nimmt uns dann bald der stärker werdende Strom mit und Pellworm fliegt an uns vorbei. Es weht kaum Wind aus so etwas wie südöstlicher Richtung.

Die Tonnen sehen aus der Ferne teilweise weiß aus, obwohl sie rot sein müssten. Beim Näherkommen erkennt man, dass sie tatsächlich einen Großteil ihrer richtungsweisenden Farbe eingebüßt haben - ein Tribut an den starken Eisgang des vergangenen Winters, der gepaart mit einer mächtigen Strömung keinen guten Einfluß auf das Aussehen der Navigationsmarken hatte. Irgendwo verliert sich die Übereinstimmung der faktischen Tonnenbezeichnung mit der auf unseren Seekarten vermerkten. Insbesondere als wir auf eine rote Tonne mit der unzweifelhaft erkennbaren Nummer 1 treffen, wissen wir, dass hier etwas grandios aus dem Ruder gelaufen sein muss. Wir lassen uns nicht weiter davon irritieren.

Genau südlich der Bake von Süderoogsand registriere ich die Zeit: Exakt drei Stunden sind wir jetzt unterwegs. Es sind fast dreißig Kilometer bis hierher und wenn man unser anfängliches Gekrieche durch das flache Wasser bedenkt, kann man sich ein Bild von der gewaltigen Strömung machen, die die Norderhever hinabrauscht. Die Seezeichen, die an uns vorbeizischen und die Wasseroberfläche bestätigen diese Tatsache. Nie habe ich Strömung auf freier Fläche so drastische Wirkungen entfalten sehen wie hier. Überall tanzen Wirbel herum und sprudeln Pilze empor. Das hilft uns, den Verzug durch die morgentliche Trägheit und die naive Navigation wieder zu kompensieren.

Auf einer recht kurzen Strecke treffen wir auf drei tot im Wasser treibende Seehunde. Es sind allesamt längst nicht ausgewachsene Jungtiere. Wir hoffen, dass es sich bei den Opfern um natürliche Abgänge handelt und nicht um Vorboten einer neuerlichen katastrophalen Seuche.

Die Strömung vor dem Südteil von Süderoogsand kippt schon deutlich vor Niedrigwasser, so dass wir uns hier gar nicht lange aufhalten, sondern gleich das Rummelloch ansteuern. Es ist etwas schwierig, die vielen sandigen Erscheinungen dem Norderoog-, dem Süderoog bzw. dem Jappsand zuzuordnen, aber ich vertraue darauf, dass wir irgendwann den alten Kirchturm von Pellworm sehen, der uns den richtigen Weg weisen wird. Vor dem Eingang zum Rummelloch gönnen wir uns noch eine Pause. Es ist nicht einmal zwölf Uhr, damit in etwa Niedrigwasser und wir haben noch den ganzen Tag Zeit, Hooge zu erreichen.

Der Sand sieht hier aus wie eine Luftaufnahme eines Schlachtfeldes nach einem frischen Bombenangriff - überall Krater und Löcher, die mit piewarmen Wasser gefüllt sind. Die wird die Strömung mit ihren Wirbeln wohl graben, wenn das Wasser hier mit Wucht an die Wattkante prallt, hochgedrückt wird und dann darüber kräftige Wirbel bildet.

Wir nutzen die Gelegenheit, ein ausführliches Bad im gerade noch erfrischenden Wasser zu nehmen. Ich schätze die Temperatur auf etwa 22 Grad - in den Kratern liegt sie natürlich noch deutlich höher. Die Lufttemperatur liegt irgendwo jenseits der 30 Gradmarke.

Wir müssen uns das Badewasser mit einem beleidigt vor dem Sand patroullierenden Seehund teilen, der bei unserer Ankunft unwillig von seinem Lieblingssonnenplatz in die Fluten glitt und uns nun nicht mehr aus den Augen lässt.

Diese Landschaft fasziniert uns beide: Mitten im Meer und doch festes Land unter den Füßen, Kein Baum, kein Strauch, an dem der Blick hängenbleibt, kein Mensch kilometerweit. Eine faszinierende Stille, Einsamkeit und Kargheit. Dieser Ort ist so weit weg, dass meint, auf einem anderen Planeten zu sein, und er ist doch so einfach zu erreichen - vorausgesetzt man hat ein Kajak und weiß gepflegt damit umzugehen!

Ich hätte noch stundenlang hier verweilen können, aber mein anfangs recht hoch auf dem Sand gelagertes Schiff schwimmt bald auf, so dass uns nichts anderes übrigbleibt, als weiter zu fahren. Die Sände links und rechts ragen sehr hoch auf und ihre Kanten sind fast durchgängig mit großen Herden Seehunden bestückt. An der ersten Ansammlung lassen wir uns von der Strömung in erklecklichem Abstand sachte vorbeitragen - in der Absicht, diese überaus scheuen Tiere nicht zu verschrecken. Irgendwann scheint eines der dösenden Tiere mal mit den Augen zu blinzeln und uns zu entdecken. Sofort stürzen alle Tiere ins Wasser und verfolgen uns! Fortan werden wir ständig von knopfäugigen Bojen umringt, die alle naselang vor, hinter und neben uns auftauchen und uns neugierig bestaunen. Es ist schlicht nicht möglich, die Robben ungestört auf ihren Bänken zu belassen: Sobald sie ein Paddelboot entdecken, kommen sie einfach auf einen zugeschwommen und treiben ihre Späße!


Als wir auf Hooge angekommen die Badetreppe hochsteigen, reiben wir uns etwas ungläubig die Augen: Die Wiese hinter unserem Lagerplatz blüht dermaßen bunt, dass es uns beiden die Sprache verschlägt. Möglicherweise ist auch hier die Ursache der lange andauernde Winter, der die Blütezeiten der unterschiedlichen Pflanzen zusammengedrängt hat. Egal wie, es sieht einfach unglaublich schön aus.

Es ist Fußballweltmeisterschaft und die deutsche Mannschaft muss heute gegen Argentinien antreten. Wäre ich mit Ingo unterwegs gewesen, hätten wir vermutlich einen tragbaren Fernseher dabei gehabt, aber Jörg hat nur ein Fernglas, und das reicht nicht bis Südafrika. Meine Tochter Birke hat Verständnis und schickt mir nach jedem Tor eine SMS. Ich habe noch nie so viele SMS in so kurzer Zeit erhalten!



Wie in jedem Jahr leisten wir auch heuer wieder unseren Beitrag zum Wohle der Hooger Wirtschaft. Für die immer gleiche Bedienung im "Friesenpesel" sind wir schon alte Bekannte und bei den Schafen für unseren Appetit gefürchtet! Unbeschreiblich lecker so ein Lammfilet!

Der Abend klingt aus bei Wein und Kakao im Strandkorb mit Blick übers Meer. Es weht ein lauer Wind, am Horizont zucken Blitze und der Donner rollt dumpf grollend über uns hinweg. Alle fünf Minuten fällt ein dicker Regentropfen, aber der Hafenmeister hat gesagt, dass das Gewitter an uns vorbeiziehen wird. Unvermittelt setzt der Wind aus. Wie so oft in solchen Situationen überfällt mich eine irritierende Unruhe, die mich hektisch meine Sachen zusammensammeln und Richtung Zelt fliehen lässt. Es sind etwa 30 Meter bis dahin, aber als ich den Reißverschluss öffne, kann der Himmel das Wasser nicht mehr halten und es schüttet wie aus Kübeln. Jörg, der nicht in Hektik verfallen ist, hat die nächste halbe Stunde noch im Strandkorb verbracht, weil er sonst zum Zelt hätte schwimmen müssen.

Der Sonntag ist ganz dem Motto "Zeit haben" gewidmet. Holmer Siel ist nicht weit und Hochwasser ist eh erst abends. Keine Termine. Keine Hektik. Kein Stress. Keine Kompromisse. Kein anderes Bier! Wir genießen die Sonne, die Wärme, die Zeit und das Leben. Wir machen einen Spaziergang und nehmen Jörgs legendäres Fernglas mit. Damit rücken wir allerlei Vögeln auf den Pelz, aber vor allem frönen wir damit der guten Sicht, die uns Dinge sehen lässt, für die wir nur schwer eine Erklärung finden. Der Leuchtturm von Amrum ist schon mit bloßem Auge wunderbar klar zu erkennen. Westlich davon sieht man zweifelsfrei hohe Dünen, dann einen flachen Sandstreifen, noch weiter westlich sind regelmäßige Strukturen zu erkennen. Die hohen Dünen rechnen wir Sylt zu, ebenso wie den flachen Sandstreifen. Für die regelmäßigen Strukturen schlägt Jörg die Hochhäuser von Westerland vor, doch ich mag mich da nicht anschließen, habe aber auch keine andere Erklärung zur Hand. Ein späterer Blick in die Seekarte lässt uns komplett ratlos zurück, denn Sylt ist in dieser Richtung überhaupt nicht zu sehen und alles, was da noch kommt, sind die Shetland Inseln und die Äußeren Hebriden. So eine gute Sicht ist einfach Mist, man wird vollkommen verunsichert!



Um drei Uhr ist soviel Wasser vorhanden, dass wir Hooge verlassen können. Allerdings ist es eine recht glitschige Angelegenheit. Es geht übrigens erstaunlich gut, ein vollbeladenes Kajak über schlickiges Watt zu ziehen. Nur wenn man danach seine kleiigen Schuhe vor dem Einsteigen abwäscht, sollte man darauf achten, dass sie sich nicht alleine auf den Weg machen! Die Temperatur ist heute gar nicht so hoch - nur etwa 25 Grad, aber die Sonne scheint immer noch aus vollem Halse. Wir folgen den dicht gesteckten Priggen, die uns im Vorbeifahren auch immer etwas über Richtung und Stärke des Tidenstromes erzählen. Wie nach Lehrbuch haben wir einen leicht folgenden Strom bis zum Wattenhoch, dann steht er leicht gegen uns. Anfangs ist das noch kaum zu merken, aber er wird überraschend schnell stärker. Wir müssen eine Seehundsbank relativ dicht passieren, weil sie ganz nahe am Fahrwasserrand liegt. Wieder robben die Tiere ins Wasser, stürzen auf uns zu und verfolgen uns eine Weile. Es sind wieder viele Muttertiere mit Jungen dabei. Wenn eine solche Gruppe straks auf uns zuschwimmt, fällt es schwer zu glauben, dass sie uns als Gefahr wahrnehmen sollen.

Östlich von Pellworm biegen die Priggen nach Süden weg. Wir folgen ihnen und fahren damit immer stärker gegen den anschwellenden Strom. Wir ziehen gehörig am Stock aber machen nicht sonderlich viel Fahrt über Grund. Ich beobachte die Umstände eine Weile, indem ich mehrere Peilungen nehme und schließlich feststellen muss, dass die Norderhever etwas gegen unsere momentane Fahrtrichtung hat: Wir stehen fast auf der Stelle! Ich sage Jörg, dass wir den Strom erst nach Osten queren müssen und dann wieder nach Süden gehen. Das hat zum einen die Wirkung, dass wir auf der anderen Seite in flacheres und damit langsamer strömendes Wasser gelangen. Zum anderen lässt der Strom mit der Zeit sowieso nach, so dass erst nach Osten und dann nach Süden auch deswegen vorteilhafter ist als umgekehrt.

Holmer Siel ist schon von sehr weit sichtbar und man glaubt, in ein paar Minuten hat man es erreicht. Aber es ist weiiit und das letzte Stück ziiieht sich. Es gibt nichts mehr zu gewinnen, nichts mehr zu erwarten, wir wollen nur nach Hause, aber das Ziel will und will nicht näher kommen. Ein leichter Süd-West-Wind hat eingesetzt und hindert zusätzlich. Das nagt uns an und wir sind beide überrascht, dass uns der Heimweg so viel Mühe macht. Als wir vor ein paar Jahren dieselbe Strecke gefahren sind, kam es mir nicht so anstrengend vor. Später finde ich die ebenso simple wie plausible Erklärung: Wir sind mit ablaufenden Wasser vom Wattenhoch gekommen und nur dass allerletzte Stück von Nordstrandischmoor bis Holmer Siel gegen ein minimales Strömchen gefahren. Das ist natürlich eigentlich die planerisch sauberere Variante, aber es hätte bedeutet, dass wir heute morgen vor dem Aufwachen hätten losfahren müssen. Und dann wäre der ganze Urlaubstag auf Hooge nicht möglich gewesen!

Wenn man wie wir fährt, hat man halt für zwei Drittel der Strecke einen überhaupt nicht zu vernachlässigenden Strom gegen sich. Gesellt sich noch ein widriger Wind hinzu, kommt man schnell in eine Situation, die manchen Paddler überfordern kann.

Natürlich kann man Variante "Was kümmert mich der Strom?" wählen, aber dafür bedarf es eben Mitfahrer der "Jörg"-Klasse! Die Gesamtstrecke von Hooge nach Holmer Siel beläuft sich auf etwa 23 Kilometer. Wir haben eine absolute Zeit von dreieinviertel Stunden dafür benötigt. Darin sind alle Pausen und Verzögerungen durch Seehundsbeobachtungen und Positionsbestimmungen enthalten. Das macht eine Netto-Durchschnittsgeschwindigkeit von ziemlich genau sieben Kilometern pro Stunde. Mit vollbeladenen Booten und zwei Drittel des Weges gegen Strom. Kein Wunder, dass wir angenagt waren!


Übrigens: Da ich immer irgendetwas vergesse, musste Jörg diesmal die Fotos machen. Die Bilder sind also allesamt: "Courtesy Jörg S."!

Mittwoch, 5. Mai 2010

Anglesey Seakayak Symposium, Mittwoch

Seit morgens um sechs Uhr regnet es. Erst heftig, dann leicht. Trenk ist noch unruhiger als sonst beim Frühstück und verschwindet bald mit  seiner Aufgabe zu Peter, der noch mal einen Blick auf seine Ausarbeitungen werfen soll. Meine Vier-Sterne-Übungsgruppe trifft sich zur Vorbesprechung des Tages. Es werden die ausgearbeiteten Touren kurz vorgestellt und jeweils kritische Fragen dazu gestellt. Die Fragen sind knapp wie: "Wie hoch ist die größte Geschwindigkeit des Tidenstromes in diesem Gebiet?", zielen aber jeweils auf einen entscheidenden Aspekt der Tour.

Wir starten heute von Rhoscolyn aus. Das ist eine kleine, sehr geschützte Bucht, die nur über eine einspurige Straße zu erreichen ist. Sie führt in gerader Linie von einem Haus zum nächsten, wo sie rechtwinklig abknickt und zum übernächsten Haus führt. So zickzackt sie sich bis zum Parkplatz am Strand. Wie man hier mit dem Trailer durchkommen soll, ist mir schleierhaft: jede Begegnung mit einem entgegen kommenden Fahrzeug ist ein Abenteuer und die Begegnung zweier Trailer vermutlich eine Katastrophe. Aber irgendwie gelingt es doch, dass die gesamte Gruppe inklusive aller Kajaks am Strand ankommt.

Wir teilen uns heute in noch kleinere Gruppen auf. Ich bin mit dem Deutschen Jochen und dem Briten Dan beim Holländer Axel als Coach. Es geht um das Thema Leadership. Die erste Frage ist, wie man eine Gruppe von Paddlern durch die Brandung hinaus aufs Wasser bringt. Dan weiß genauestens darüber Bescheid, dass der stärkste Paddler zuerst geht und dann der schwächste folgt. Ob er diesen Kurs schon einmal gemacht hat, will Axel wissen. Nein, aber er war schon mal in der Situation, in so einer Lage der schwächste Paddler gewesen zu sein!

Wir bekommen abwechselnd Führungsaufgaben, in denen wir besonders auf die Aspekte C-L-A-P achten sollen: Communication, Line of Visibility, Avoidance of Problems und Positioning. Wir hangeln uns so durch die Felsen, bis wir zu einer Stelle kommen, wo in einer ca. hundert Meter breiten Überfahrt zu der kleinen Insel mit dem Rhoscolyn- Richtfeuer drauf ein lebhafter Strom geht. Ich neige dazu, die Stromgeschwindigkeiten hier zu überschätzen. Ich vermute, das liegt an der relativen Kleingliedrigkeit der Landschaft verglichen mit der in der Nordsee. In unserer nordfriesischen Heimat ist alles so viel weiter und offener, deshalb wirkt dort ein Strom mit derselben Geschwindigkeit weniger beeindruckend. Als gutes Hilfsmittel zur Beurteilung erweist sich die Frage, ob man noch gegenan paddeln kann. Ist das ohne Mühe möglich, ist die Stromgeschwindigkeit unter drei Knoten.

Wir queren ein paar Mal zur kleinen Insel und zurück und nutzen die unterschiedlichsten Techniken. Am einfachsten fand ich die Methode, sich einfach einen Kompasskurs zu wählen, von dem man denkt, dass er den Stromversatz in etwa kompensiert, und diesen Kurs für die gesamte Querung beizubehalten. Hierbei hat man noch die einfache Möglichkeit, über die eigene Geschwindigkeit den Versatz zu beeinflussen.

Bei einer Querung lässt sich Axel ins Wasser fallen. Da ich es zuerst merke, übernehme ich die Rettung. Kurz nachdem wir weiterpaddeln, fallt er schon wieder rein. Damit ist klar, dass er geschleppt werden muss. Jochen ist im Moment unser Führer und will selbst schleppen, aber ich sage dass ich das übernehme und er uns weiter führt. Dan wird ebenfalls an die Leine genommen, damit er Axel stützen kann und verhindert, dass er wieder ins Wasser fällt. Diese ganzen Spielchen sind sehr einfach, aber sie sind auch sehr realistisch und finden unter wirklichkeitsnahen Bedingungen statt. Da sieht eben doch manches anders aus als im lauwarmen, ruhigen Hallenbad.

Axel sucht uns eine schöne Stelle, wo wir Rock-Landing praktizieren können. Er steigt zuerst aus und bringst sich und sein Boot auf den Felsen. Beim Incident-Management vergangenen Sonntag habe ich dieses Thema noch ausgelassen, als es darum ging, es selbst zu durchzuführen. Da es aber fester Bestandteil des Vier-Sterne-Trainings ist, bin ich gespannt, wie es sich anfühlt. Ich schmeiße mich ins Wasser und freue mich über meine Bugleine. In die konnte ich nämlich schon vorher meinen Karabiner der Schleppleine einklinken. Der Standard-Brite muss erst aussteigen, dann zum Bug seines Bootes schwimmen und dort den Karabiner einhaken. Dabei muss er natürlich auch sein Paddel gewissenhaft festhalten, da es ja nicht eingelascht ist. Ich löse nur mit einem Griff mein Paddel vom Boot und schwimme mit seiner Hilfe zum Felsen.

Das Schwimmen mit dem Paddel ist übrigens ausgesprochen effektiv. Insbesondere mit Trockenanzug ist normales Schwimmen mit seinem Boot im Schlepp nicht sehr wirkungsvoll. Am Felsen angekommen, muss man erst einmal einen sicheren Stand finden, was das auf- und abschwellende Wasser nach Kräften zu verhindern sucht. Man muss sich mit äußerstem Bedacht bewegen, damit man nicht von der nächsten Welle wieder ins Wasser gewaschen wird. Hat man sicheren Stand in etwas trockeneren Gefilden gefunden, gilt es, das Boot nachzuholen. Hier darf man nicht allzu empfindlich auf eventuell schrapende Geräusche reagieren, sonst hat man wenig Freude.

Auch beim umgekehrten Vorgang, vom Felsen wieder ins Wasser zu kommen, zeigt sich die Überlegenheit meiner Bugleine. Während der Standard-Brite daran denken muss, seine Schleppleine vom Bug zu lösen und sie in der Nähe des Cockpits wieder einschäkeln muss, weil er sie sonst nicht mehr lösen kann, kann mein Schäkel bleiben, wo er ist. Ich schicke mein Boot ins Wasser, springe hinterher und schwimme mit Hilfe des Paddels so weit vom Felsen weg, dass ich beim Wiedereinstieg nicht Gefahr laufe, mit ihm zu kollidieren. Und beim Wiedereinstieg empfinde ich auch meine Paddelleine als große Erleichterung. Mit einem Klick ist die Leine am Boot fixiert und ich kann mich in aller Ruhe unter Wasser im Cockpit zurecht setzen, ohne krampfhaft mein Paddel festhalten zu müssen.

Locker hochgerollt kommt der nächste Ausrüstungsgegenstand zum Einsatz, den man beim Briten vergebens sucht: meine Schenkelpumpe. Ich habe hier kein zweites Boot mit so einem Teil gesehen, selbst Trenk hat eine Handpumpe. Dafür ist meine Pumpe vielfach bestaunt, befragt und sogar fotografiert worden. Der Standard-Brite hingegen eiert zuerst einmal mit vollem Cockpit in ein ruhigeres Gebiet und - wenn er es denn erfolgreich bewerkstelligt hat - zieht seine Handpumpe unter den Decksgummis hervor, um damit durch die geöffnete Spritzdecke sein Cockpit zu lenzen.

Gestern, beim Thema "Personal Skills" hatte ich zwar Spaß, aber nicht wirklich etwas gelernt. Heute hingegen habe ich - trotz Axels sehr vorsichtigen Stils - unheimlich viel gelernt. Das deckt sich auch mit meiner bisherigen Beobachtung: Was Paddeltechnik und Bootsbeherrschung angeht, gibt es hier nur wenige Teilnehmer, die mir etwas vormachen können. Aber beim Thema "Leaderschip" gibt es noch eine Menge für mich zu lernen. Als uns Axel am Strand noch einige Hinweise für das Vier-Sterne-Assessment mit auf den Weg gibt und wir auf die Voraussetzungen für die Zulassung zu sprechen kommen, gibt Dan zu bedenken, dass er das Assessment noch nicht machen kann, weil er zu jung sei. Ich bin etwas irritiert, denn ich habe ihn auf Anfang zwanzig geschätzt und frage, was denn die Altersgrenze sei. Die liegt bei 16 Jahren - und Dan ist erst 15!


Dienstag, 4. Mai 2010

Anglesey Seakayak Symposium, Dienstag

Nachdem ich gestern Nacht noch bis nach ein Uhr geschrieben habe, schaffe ich es heute Morgen sogar bis um zwanzig nach sieben im Bett zu bleiben. Das Briefing ist erst um 9:30 Uhr - also bleibt jede Menge Zeit. Trenk macht sich bereits um 9:00 Uhr auf die Socken, seinem Schicksal noch eine positive Wendung zu geben. Im großen Saal werden die Interessensgruppen in jeweils separate Räume gewiesen. Ich folge der Vier-Sterne-Training-Gruppe. Die erste Frage des Coaches ist wieder: "Ist hier jemand im Raum, der kein Drei-Sterne-Siegel besitzt?" Ich gebe mich als Guinea-Pig zu erkennen. "Guinea-Pigs gehören zum Vier-Sterne-Assessment! Das ist zwei Räume weiter." Ich gehe zwei Räume weiter. Hier kämpft Trenk zusammen mit Tatjana aus Italien und Henne aus Dänemark immer noch um seine Aufnahme in die BCU. "Guinea-Pigs werden erst morgen benötigt! Heute nicht." Ich gehe wieder zurück - nicht über LOS und ich ziehe auch keine 4000 Mark ein. Ich erkläre Phil, dass mir die Sterne schnuppe sind und ich einfach etwas lernen möchte. "Kein Problem!" Ich will gar nicht wissen, was vor fünf Minuten noch das Problem war.

Wir wollen in Church Bay starten. Das liegt nördlich, etwa eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt auf dem britischen Kontinent. Jochen nimmt mich in seinem Auto mit. Geschickter Weise verfahren wir uns gleich am Anfang gründlich, bügeln diese Scharte aber schnell aus.

Die Church Bay hat einen wunderschönen, breiten Sandstrand, der bald mit über zwanzig Kajaks bevölkert ist. Die Teilnehmer werden in drei Gruppen eingeteilt. Ich bin mit den beiden Deutschen Jochen und Herbert, den beiden Däninnen Merete und Inga und den  Briten Mörla, Jane und Dan in der Gruppe von Axel aus Holland und Peter aus Wales (der furchtbar nuschelt!).

Zuerst spielen wir in der gutmütigen Brandung. Unsere Coaches wollen sehen, wie wir mit den Booten umgehen und welche Techniken wir können. Eigentlich ist der gesamte Vormittag dieser Forschungsarbeit gewidmet. Es geht atemberaubend dicht an und zwischen Felsen vorbei und hindurch, durch turbulentes Wasser und blindlinks in eine sich verengende Höhle, aus der wir rückwärts wieder heraus müssen. Wir müssen eine 180-Grad-Wende im rauen Wasser dicht an einem Vorsprung und rückwärts um einen großen Felsen fahren.

Etwas weiter nördlich ist bereits ein ansehnliches Race zu sehen, auf das wir zusteuern. Axel erklärt, dass das Race zu befahren jenseits des Bereiches liegt, wozu das Vier-Sterne-Fahrtenleiter-Zertifikat berechtigt, dass wir aber trotzdem darin spielen wollen. Als wir uns ihm hinreichend angenähert haben, erklärt Axel, dass eine Gruppe von vier Paddlern mit ihm dort hinein gehen und die anderen vier mit Peter folgen.

Mit allen Teilnehmern gleichzeitig in dieses ansehnliche Race zu gehen, halte ich für keine gute Idee! Ich brauche meine Bedenken aber gar nicht zu äußern, denn zum Glück regt Peter an, noch einmal über mögliche Konsequenzen und Alternativen nachzudenken, was letztlich dazu führt, dass wir nicht in den brodelnden Schaum gehen, sondern uns eine Stelle für unsere Pause suchen.

Wir sitzen anfangs in der Sonne, aber die bedeckt sich bald und es wird ungemütlich frisch. Bevor wir wieder aufs Wasser gehen, gibt es eine ausführliche Erläuterung zu Schleppleinen und Schlepptechniken. Wieder auf dem Wasser werden diese Dinge in der Praxis geübt. Ich schleppe Merete zuerst ein ordentliches Stück - und bin ganz froh darüber, denn danach bin ich wieder vollständig aufgewärmt.

Der nasse Teil beginnt mit der Aufgabe, zuerst eine Rolle zu zeigen, dann einen Wiedereinstieg eigener Wahl und danach eine Partnerrettung. Das ist schnell abgehakt und ich erlebe ein weiteres Mal, wie gut ausgebildet und taff die skandinavischen Paddlerinnen sind: da ist nicht einmal der Ansatz eine Zuckens zu sehen, wenn sie ins Wasser sollen, und die Rolle oder der Unterwassereinstieg klappen wie selbstverständlich!

Ich mag es kaum glauben, aber das war es für heute auf dem Wasser!

Die Rückfahrt mit Jochen verfransen wir abermals in den kleinen walisischen Straßen, aber ich habe keine Ahnung, wo wir denn falsch abgebogen sind, obwohl ich die Karte auf dem Schoß habe.

Matthias hat eine Halbtagspaddeltour gemacht und ist schon angefangen, das Essen zuzubereiten. Das kommt uns gut zu Pass, denn Trenk und ich müssen um 19:00 Uhr schon wieder im Versammlungsraum sein. Trenk hatte zwar Glück mit dem Wenden seines Schicksals, aber einen stressigen Tag erlebt. Nach seinen Erzählungen und meinen heutigen Erlebnissen tut sich hier eine ziemliche Diskrepanz auf zwischen Inhalt und Anspruch des Trainings verglichen mit der dazugehörigen Prüfung!

Während unser heutiges Training schwerpunktmäßig den persönlichen Fertigkeiten gewidmet war, soll der morgige Tag sich im Wesentlichen auf die Führungssaspekte konzentrieren. Dazu sollen wir eine beliebige Tour in der Gegend aussuchen und planen, die wir unter den morgigen Bedingungen mit einer Gruppe von Drei-Sterne-Paddlern durchführen könnten. Ich schließe mich für diese Aufgabe mit Mörla, Merete und Inga zusammen. Mörla stammt aus dieser Gegend und hat detaillierte Kenntnisse über die lokalen Verhältnisse sowie die notwendigen navigatorischen Techniken. Das ist sogar für mich ausgesprochen lehrreich, denn die britischen Navigationsunterlagen unterscheiden sich deutlich von unseren.

Wir sind nach einer guten Stunde fertig mit unseren Planungen und Überlegungen - Trenk, für den es morgen um die Wurst geht, arbeitet noch bis spät in die Nacht hinein.

Montag, 3. Mai 2010

Anglesey Seakayak Symposium, Montag

"Windvorhersage: Nord 4", sonst sagt Nigel nichts dazu, aber der Himmel spricht für sich: er ist strahlend blau! Die Temperatur kann aber nicht hoch sein, denn der Wind weht eiskalt. Heute gibt es nicht viele Veranstaltungen, es ist im Wesentlichen "pleasure paddling" angesagt. Das ist eh, wonach mir der Sinn steht. Bleibt nur noch die Frage, wohin. Einige Touren erfordern einen Bootstransport mit dem Auto, einige sind mir schlicht zu kurz. Peter bietet eine Tour, die mir am besten zusagt: Start am Strand vor der Haustür, über Penrhyn Mawr zum South Stack und von dort zum North Stack. Trenk kommt auch mit und nach kurzer Überzeugungsarbeit auch Matthias. Herbert aus Bremen und René aus der Schweiz sind zwei weitere deutschsprachige Teilnehmer. Die restlichen sieben Teilnehmer sind Briten inklusive "NRS"  - "Non Rolling Susan"!

Peter setzt die Abfahrt auf 11 Uhr, fügt aber hinzu, dass das "im Boot auf dem Wasser" bedeutet und dass 10:30 Uhr Treffen am Strand ist. So passiert es, dass wir tatsächlich als gesamte Gruppe um Punkt 11 Uhr schwimmend auf dem Wasser sind. Bei Penrhyn Mawr wählen wir das "outer bit" für ein paar Spielereien. Von "tödlich" ist heute keine Spur - im Gegenteil: die Bedingungen sind ideal zum Üben. Ich bin um Welten lockerer als vor zwei Tagen und habe Wellen und Boot gut unter Kontrolle. Leider übt noch eine zweite Gruppe in den Schnellen, so dass sie für ein entspanntes Spielen viel zu dicht bevölkert sind. Also verlassen wir sie bald Richtung Norden. Am Leuchtturm Sourth Stack gehen wir diesmal nicht außen herum, sondern fahren unter der Brücke hindurch. Ich bin diesmal schon viel lockerer im Erkennen der Strömungen und merke gleich, dass wir hier unter Land gegenan fahren. Ich frage mich, ob Peter sich darüber im Klaren ist und schließe zu ihm auf. Er sagt gleich von sich aus, dass wir uns hier in einem riesigen Kehrwasser befinden. Er ist wirklich umsichtig und kompetent.

Ich glaube anfangs, dass wir sehr viel Zeit haben, unser Ziel zu erreichen, aber Peter korrigiert mich, denn das Race am North Stack setzt bereits eine Stunde vor Hochwasser Holyhead ein. Wir verbringen unsere Pause in derselben Grotte wie vor zwei Tagen, aber heute geht der Schwell nicht so hoch. Mir gelingt eine blitzsaubere Landung, indem ich rechtzeitig meine Spritzdecke öffne, mich aufs Achterdeck setze und absteige, bevor mein Bug auf die Steine trifft. Das Boot mit einer Hand in der Luke gefasst und nach oben tragen waren eins. So konnte ich den Nachfolgenden beim Anlanden und Aussteigen zur Hand gehen. Während unserer Pause schwimmt wieder eine Kegelrobbe im Eingang Streife. Später gesellt sich eine zweite dazu.

Um 14:00 Uhr - also genau Hochwasser Holyhead - blasen wir zum Rückzug. Es geht zwischen der Hauptinsel und einer vorgelagerten Insel hindurch ein paar hundert Meter hinaus. Hier wieder das unglaubliche Schauspiel, dass das Wasser, in dem wir uns gerade befinden, fast still steht, während es direkt daneben rauscht wie Hulle. Das ist das North Stack Race, das auch mörderisch sein kann, sich heute aber auch nur moderat bissig präsentiert. Wir fahren alle hinein und surfen die überfallenden Wellen ab. Ich fühle mich pudelwohl und genieße das Schäumen, das Rauschen und den Anblick der vielen in den Wellen auf- und abpoppenden Boote. "Schade, dass ich hier keine Fotos machen kann", denke ich. Wieso eigentlich nicht? Anfangs noch etwas kippelnd fingere ich die Kamera heraus, schalte sie an und drücke ab. Die Motivsuche ist Glücksache, aber ich bleibe ganz locker bei dem Versuch, das Boot mit einer Hand zu balancieren. Als ich an "Non Rolling Susan" heranfahre, die etwas "alamiert" im Cockpit sitzt, sage ich, dass das Steuern beim Fotographieren doch schwierig sei. "Ich würde nicht einmal wagen, daran zu denken!" erwidert sie. Ich habe es geschafft, das Boot mehr mit dem Hintern zu fahren als mit den Augen, Frappierend, was zwei Tage Üben bewirken.

Eigentlich habe ich mich auf die überfallenden Wellen am South Stack gefreut, die wir am Samstag zweimal durchquert haben. Heute ist nichts - aber auch gar nichts davon zu sehen! Ich frage Cathrina, die auch vor zwei Tagen mit von der Partie war: "Kann dies dieselbe Stelle sein?" Unglaublich wie unterschiedlich sich ein Ort hier zeigen kann! Dafür spielen wir wieder etwas im rücklaufenden Wasser vor South Stack. Es ist recht moderat und man kann in aller Seelenruhe Seilfähren hin- und herfahren. Nur wenige Meter vom Kliff entfernt ist dicht unter der Wasseroberfläche ein großer Fels, über dem das Wasser eine besonders kräftige Welle bildet. Dort setze ich mich drauf und lasse mich hin und her werfen. Dem strömenden Wasser überlagert sich ein leichter Schwell, der die Welle an- und abschwellen lässt. Irgendwann bildet sich plötzlich ein tiefes Loch, in das ich hineinfalle, die falsche Kante des Bootes unten habe, meine Stütze anfängerhaft misslingt und ich umfalle. Ich bin etwas überrascht, dass ich senkrecht unter dem Boot hänge, aber ich werde schon irgendwann zu einer Seite gedrückt werden, denke ich mir. Viel weiter denke ich nicht, denn ganz offensichtlich sind die Verhältnisse in einem Tidal Race anders als zu Hause vor dem Steg oder im Hallenbad. Als ich auf die Idee komme, mich durch Wriggen in eine bessere Position zu bringen, habe ich bereits so viel Zeit mit Warten verbracht, dass ich aussteigen muss. Dass mich das Wriggen auch nur zur falschen Seite an die Oberfläche gebracht hätte, war der Tatsache geschuldet, dass ich mir unter Wasser ebenfalls absolut keine Gedanken über die Strömungsrichtung gemacht habe. Als ich wieder am Sauerstoffaustausch teilnehme, ist Trenk sofort zur Stelle, gibt mir klare Anweisungen und hilft mir sicher zurück in mein Fahrzeug. René bedankt sich für die schönen Bilder eines echten Zwischenfalls, die er jetzt auf seine Webseite stellen kann. Es gibt also noch viel zu üben für mich. Ich beginne gleich damit, dass ich direkt noch einmal in der Strömung rolle. Kein Problem! Vor dem Strand von Porth Dafarch probiere ich die "Balance-Stütze", wie Peter sie am Freitag vorgemacht hat. Es klappt tatsächlich, dass ich flach neben meinem Boot auf dem Wasser liege und meine Nase oberhalb der Wasseroberfläche bleibt! Schönes Gefühl!

Der Zeltplatz hat sich bereits sichtlich gelehrt, denn das Symposium ist zu Ende. Ab morgen startet die "BCU"-Woche, in der lauter Vorbereitungen und Prüfungen zu BCU-Qualifizierungen angeboten werden. Ich habe mich für das Vier-Sterne-Training eingetragen, Trenk für die Vier-Sterne-Prüfung. Abends um sieben ist Treffen für ein vorbereitendes Gespräch. Zuerst werden die Interessenten für die verschiedenen Trainings und Assessments abgefragt und in die Tabelle an der Tafel eingetragen. Dann fragt Nigel, ob denn auch jeder, der sich für das Vier-Sterne-Training eingetragen hat, im Besitz eines Drei-Sterne-Zertifikates ist. Das sei zwingende Voraussetzung für die Teilnahme. Damit ist mein Plan vorerst geplatzt und ich melde mich noch für das Drei-Sterne-Assessment am Freitag. Um außerdem noch die Chance zu haben, etwas von den Vier-Sternen zu sehen, trage ich mich als "Guineapig" ein. Die nächste Frage von Nigel ist, ob denn jemand von denen, die sich für das Vier-Sterne-Assessment eingetragen haben, nicht Mitglied der BCU sei. Trenk meldet sich. Er sei aber gerne bereit, in den nächsten fünf Minuten beizutreten. Nigel wiegt mit wichtiger Mine den Kopf und meint, dass wir morgen sehen müssen, was wir tun können. Damit ist auch Trenks Plan vorerst zerbröselt.

Es geht noch etwas hin und her in der Diskussion, wie Qualifikationen nach dem alten System in das neue umgerechnet werden, aber das wird mir irgendwann zu albern. Ich will hier nicht nach irgendwelchen Sternen greifen, sondern etwas lernen und das werde ich hinbekommen - und wenn ich mich dafür als Meerschwein verkleiden muss! Nur Trenk tut mir etwas leid, weil er klare Vorstellungen und Pläne hatte, die ihm jetzt aus den Händen zu gleiten drohen. Ich gehe noch zum Bildervortrag von Rowland, bei dem er schöne und spektakuläre Bilder von Paddeltouren rund um den Globus zeigt. Der Vortrag ist betitelt mit "This is ... the REAL sea"!

Sonntag, 2. Mai 2010

Anglesey Seakayak Symposium, Sonntag

In der Nacht ist Wind aufgekommen. Das ist insofern angenehm, als dass das Gras trocken ist und auch sonst kaum Feuchtigkeit in den Sachen steckt. Andererseits ist der Wind ziemlich frisch. Die Wettervorhersage für heute ist ziemlich unspektakulär: Wind 6 bis 7 aus Nordost. Das macht für einige Kurse ein bisschen Probleme, aber ich habe "Incident Management", gebucht, wofür der Wind keine nennenswerte Rolle spielt.

Rowland ist unser Coach. Bei seinen erläuternden Worten zu dem Kurst legt er Wert darauf klarzustellen, dass es sich um eine Lehrstunde handelt und nicht um ein Adrenalin förderndes Abenteuer. Wer so etwas sucht, solle sich einen anderen Kurs anschließen. Seine abweisenden Worte reichen aber nicht aus, den Kreis der Interessierten gering zu halten: Über dreißig Teilnehmer scharen sich um ihn! Diese Menge kann er unmöglich mit seinen zwei Assistenten bewältigen. Nach noch mehr nüchternen Worten, Bitten und gutem Zureden bleiben noch 19 nachhaltig Interessierte übrig.

Er beginnt die Vorstellungsrunde und führt sich mit den Worten ein: "Ich fahre seit 45 Jahren Kajak. Das bedeutet nichts anderes, als dass ich schon eine Menge Fehler gemacht habe." Es geht die Reihe rum und ich bin erstaunt, was für eine riesige Menge Erfahrung hier zusammensitzt. Es ist kaum jemand mit weniger als zehn Jahren Fahrenszeit dabei, etliche sind in ihrer Heimat als Instruktoren tätig, nur Jasper aus Dänemark fährt erst im zweiten Jahr Seekajak.

Rowland beginnt mit einer ausführlichen Theoriestunde und diese damit, dass Vorfälle besser bereits im Vorfeld vermieden werden, als sie im Nachhinein zu bewältigen. Er erklärt ausführlich jedes Detail seiner umfangreichen Ausrüstung. Man spürt bei jedem Gegenstand, bei jeder Anordnung, dass es durch langjährige Praxis unter extremen Bedingungen optimiert worden ist. Er erzählt immer wieder von Fehlern und den Fehlern anderer, aus denen er gelernt hat. Er geht mit jedem Detail gnadenlos ins Gericht, ist dabei aber nicht dogmatisch. Nichts ist in Stein gemeißelt: "Was für mich funktioniert, kann für dich falsch sein." Er will uns aufmerksam machen für Dinge, die wir überdenken sollten und für die wir eine für uns passende Lösung finden müssen. Eigentlich erzählt er uns keine spektakulären Neuigkeiten, aber er erzählt mit einer ungemeinen Wucht und die Sätze sind nicht in irgendwelcher Theorie oder theoretischer Gefahr gegründet, sondern in lebendiger Erfahrung und glaubhaften Schmerzen. Sie graben sich tief in meine Erinnerung ein.

(Foto: Merete Fischer)
Ab 12 Uhr wollen wir aufs Wasser. Er erklärt uns, dass wir in enge Spalten fahren und dort das Herausschleppen üben wollen. Ich weiß noch nicht recht, was ich davon halten soll, denn ich würde nie freiwillig in eine dieser engen Spalten fahren, in die die See schäumend hineinläuft, nur um am Ende hochzuspritzen und genauso schäumend wieder herauszulaufen. Aber wie so oft: wenn man es denn tut, ist es gar nicht so schlimm, wie man es sich vorgestellt hat. Und ich entwickle sogar ein Gefühl für das Schwappen der See in diesen Spalten und wie sich das Boot dabei verhält. Johann, ein schwedischer Assistent demonstriert "Rocklanding", bei dem man vor dem Felsen aussteigt, das Boot an der Schleppleine von sich stößt und dann versucht, schwimmend den Felsen zu erreichen und zu erklimmen.

In der Mittagspause folgt eine wortreiche Belehrung zum Thema Schleppen, Schleppleine und Karabiner. Ich habe kaum Probleme Rowlands Englisch zu verstehen, obwohl er recht schnell spricht und etwas nuschelt. Er hat eine wunderbare britische Art und den entsprechenden schwarzen Humor. Er macht nie andere lächerlich, sondern nur sich selber - aber jeder spürt eindringlich, dass er alles andere als eine lächerliche Figur darstellt. Es macht großen Spaß, ihm zuzuhören.

In der Untergruppe, in der ich übe, sind sieben Paddler, drei Männer und vier Frauen. Ian und Helen, die verheiratet sind, sind die einzigen Briten in unserer Gruppe. Ian ist eindeutig der unerfahrenste und agiert deutlich verhalten. Das mag auch an Helen liegen, die eindeutig dominant ist und schon recht lange paddelt. Aber sie wirkt etwas umständlich auf mich und langsam. In allen Situationen, die wir durchgehen, ist schnelles Handeln das oberste Gebot, aber Helen tüdelt lange mit der Schleppleine oder manövriert ihr Boot erst in die optimale Position.

Mette und Merete sind Däninnen und sehr beflissen mit guter Bootsbeherrschung. Ich habe mit Mette zusammen die Paarübungen gemacht und war baff, wie resolut sie in der Rolle des Retters agierte und Kommandos gab. Karen aus Schweden hat eine perfekte Bootsbeherrschung und ihre Fragen zeigen, dass sie viel Erfahrung im Führen von Gruppen hat. Es ist absolut faszinierend, wieviele hochgradig kompetente Frauen hier teilnehmen, die auch haarige Situationen nicht mit spitzen Fingern angehen: außer Ian und mir üben alle das Rocklanding - zu deutsch: nur ein Mann, aber alle Frauen! Als Merete schon im Wasser schwimmt, krault sie noch einmal zu mir heran. Sie hat ihre Kamera zwischen den Zähnen und bittet micht, einige Fotos von ihr damit zu machen.

Die nächste Übung besteht darin, dass jemand in eine enge Spalte fährt und dort aus dem Boot fällt. Ein anderer soll dann zum Opfer reinfahren, dessen Boot greifen und von einem dritten am Heck herausgezogen werden. Ein interessanter Gedanke, im auf- und abschwellenden Wasser zwischen den Felsen zu schwimmen! Beim Üben des "Reinlöffelns" eines Verunglückten mit ausgekugelter Schulter, beim Bergen eines Bewusstlosen oder beim Einsatz des Steigbügels gibt es viel zu lachen - und trotzdem lernen wir etwas. Als ich nach einem Unterwassereinstieg meine Schenkelpumpe einsetze, stößt sie auf allgemeines Interesse. Derartige Pumpen sind hier eher selten zu finden. Als Rowland uns am Ende des Tages ein paar abschließende Worte mit auf den Weg gibt, erntet er stehenden Applaus für seine Arbeit. Dieser Mann repräsentiert eine Dimension des Kajakfahrens, die mir bisher noch nicht begegnet ist. Ich bin voller Dank dafür, dass ich das gefunden habe!

Samstag, 1. Mai 2010

Anglesey Seakayak Symposium, Samstag

Ich stehe jurz vor sieben auf. Treffen ist zwar erst um 9:00 Uhr, ich möchte aber meine sanitären Angelegenheiten geregelt haben, bevor der große Run auf die zwei armseligen Toiletten einsetzt. Um 9:00 Uhr versammelt sich die gesamte Gemeinde im großen Zelt und Nigel Denis heißt uns willkommen. Er ist eine ausgesprochen angenehme Erscheinung: freundlich, klar, dezent und bescheiden. Er verliest kurz die Wettervorhersage und spricht einige Worte zum Ablauf der Kurse. Ich habe mich für "Tidal Races and Overfalls" eingetragen. Ich bin etwas unentschieden, ob ich mich bei den Anfängern oder bei den Fortgeschrittenen einordnen soll. Eine kurze Beratung mit Peter ergibt die Fortgeschrittenengruppe als passende Klassifizierung.

Aled ist unser Fähnleinführer. Ich kenne sein Gesicht aus "This is the Sea" Folge 3 oder 4, wo er sich mehrfach mit einem über fünf Meter langen Kajak der Länge nach überschlägt. Ein Lehrer, der zumindest Technik und Praxis des Seekajakfahrens kompetent beherrscht. Auch er gibt uns eine kleine Einleitung und mir gefällt die klare und präzise Wortwahl.. Um halb elf wollen wir uns am Strand treffen, das ist reichlich Zeit, meines Erachtens sogar etwas arg viel Zeit. Peter, Trenk und ich rollern unsere Boote zum Strand und müssen ziemlich warten, bis alle soweit sind, dass es losgehen kann.

Aled erklärt uns kurz die Arithmetik der Tidal Races: Ein Paddler, der gute fünf Minuten im Wasser treibt, ist etwa einen Kilometer von der Stelle entfernt, an der er gekentert ist. Das ist bei den gegebenen Bedingungen hinter dem Horizont. Wenn man den dann retten will und nur zwei Minuten für den Hinweg braucht, man ihn sofort findet und fünf Minuten für den Rückweg benötigt, ist man sieben Minuten vom nächsten Gekenterten entfernt. Das bedeutet für den dann: Good bye!

Entsprechend eingenordet gleiten wir ins Wasser unserem Ziel entgegen: Penryhn Mawr! Dieses Tidal Race funktioniert nur bei Flut, bei der das Wasser an den Klippen der Bucht entlang nach Norden läuft und an ihrem Ende zwischen einigen Schären derart verengt wird, dass sich wüste stehende Wellen bilden. Als wir um die erste Ecke biegen, sehen wir schon die "line of white". Aled ist etwas überrascht, dass dort heute eine derartige Welle steht. Zwar haben wir Springtide, aber es herrscht fast Windstille.Der Grund liegt in einer sanften Dünung, die aber immerhin ca. einen bis anderthalb Meter beträgt.

Es gibt drei Gatten zwischen den Schären, die sich in die Kategorien einteilen lassen: "Versuch's gar nicht erst!", "Mit Glück zu überleben" und "Nicht jeder kommt durch". Aled sagt, dass wir auf dieser Seite der Schnellen bleiben wollen. Aber mir ist nicht klar, wie ich als Fluse vor einem Staubsaugerrohr herumschwänzeln soll, ohne mit einem emotionslosen "Flupp!" weggesaugt zu werden! Ich klemme mich direkt hinter Aled und beobachte genau, wie er fährt und wohin. Und siehe da: mitten in diesem tosenden Chaos bietet uns ein Kehrwasser entspannte Ruhe, so dass wir uns die Sache erst einmal aus der Nähe ansehen und noch ein paar ermunternde Worte hören können. Wobei "hören" sich etwas schwierig gestaltet, weil ich  mittlerweile meine Neoprenhaube aufgesetzt habe und darüber den Helm. Außerdem tost natürlich das Wasser mit ziemlichen Lärm.

Trenk ist in der Gruppe der fortgeschrittenen Fortgeschrittenen, während ich mich bei den fortgeschrittenen Anfängern einsortiert habe. Während Trenk sich also am mittleren Gatt die Zähne ausbeißt, erkunden wir das "simple bit"! Das ist schon heftig genug für jemanden, der so etwas noch nie gesehen hat. Alle paar Meter reißt es einen  jäh herum und überall lauern Felsen über und unter dem Wasser. Mein Herz wummert wie bekloppt und ich brauche eine Weile, Kontrolle über mein Boot zu gewinnen. Aber ich bin wild entschlossen und es klappt ganz gut, so dass ich ich irgendwann von Aled löse und lieber Lauren anschließe, die einfach kleine Aufgabe stellt, voraus paddelt und ich hinterher.

Hätte ich mir diese Schnellen mit den Felsen darin alleine vom Ufer aus angesehen, ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich mit einem Boot da hinein zu wagen. Ich wäre von mir aus nie auf die Idee gekommen, dermaßen dicht an ein felsiges Ufer zu fahren, wenn da ein meterhoher Schwell draufsteht. Aber mit der entsprechenden Sachkenntnis und Aufmerksamkeit geht das. Es hat aber auch seinen Preis: es ist ungemein anstrengend! Ich schätze aber, dass etwa die Hälfte meiner Anstrengung in die Aufgeregtheit geht. Nicht die Muskeln leisten hier die meiste Arbeit, sondern das Herz und die Nerven.

Nach einer kurzen Pause in einer geschützten Spalte paddeln wir noch einmal gegen den Strom etwas von den Schnellen weg. Wohlgemerkt: wir paddeln gegen einen mit mehr als fünf Knoten laufenden Strom! Was unter normalen Umständen vollkommen unmöglich ist, gelingt hier fast ohne Mühe durch die überfallenden und damit rücklaufenden Wellen. Eine faszinierende Erfahrung!

Aled mustert die Gatten noch einmal und beschließt, das wir die alleräußerste angehen wollen - die tödliche! Es ist fast Hochwasser und die Tödlichkeit hat schwer nachgelassen - es schäumt kaum mehr sondern strömt nur noch. Hier gelingt bereits der eine oder andere stehende Surf, aber die Gewaltigkeit ist futsch. Der weitere Plan ist, dass wir um den South Stack herum fahren, um nördlich davon unsere Mittagspause zu verbringen. Wir müssen eine große Bucht queren und da ich die ganze Zeit neben Aled fahre, erklärt er mir ab und an die Besonderheiten der Strömungsverhältnisse. Direkt vor dem South Stack schlängeln wir uns wieder derart eng durch die Felsen, wie ich es alleine nie getan hätte.

An der äußersten Spitze des South Stack ist Schluss mit Lustig: der Tidenstrom hat längst gedreht und das Kehrwasser der Bucht ist hier zu Ende. Direkt hinter der Ecke strömt es uns heftig entgegen und wir müssen beherzt das Paddel einsetzen, um voran zu kommen. Doch bald bietet eine kleine Bucht wieder ein Kehrwasser, das Ruhe und Entspannung bringt. Wir fahren weiter Richtung Norden, zehn Meter neben uns strömt es mit fünf Knoten in die entgegen gesetzte Richtung. An einer geeigneten Stelle fährt Aled vor im spitzen Winkel in diesen Strom, paddelt etwas auf der Stelle, gleitet ein paarmal nach links , nach rechts und dann wieder ins ruhige Wasser. Ich will es ihm gleichtun, werde aber sofort herum gerissen, wende und versuche, gegen den Strom anzupaddeln. Ich paddle ziemlich heftig, und solange ich auf das Wasser um mich herum blicke, habe ich auch das Gefühl, dass ich vorankomme. Als ich aber auf die Klippen am Ufer blicke, werde ich blass: trotz meines heftigen Bemühens werde ich mit rasanter Geschwindigkeit von der Gruppe weg versetzt! "Ran an die Felswand!", ist mein einziger Gedanke und mit viel Anstrengung und Willen schaffe ich es und arbeite mich wieder an die Gruppe heran. Das  hat mir wirklich zu denken gegeben!

Die Pause wollen wir in einer riesigen Felshöhle verbringen. Sie hat nur den kleinen Nachteil, dass dort kein weicher Sandstrand zum Anlanden zur Verfügung steht, sondern nur faust- bis kopfgroße, wunderschön gemaserte Steine - und die Dünung hier immer noch zwischen 30 bis 50 Zentimeter ein- und ausatmet. Lauren geht als erste direkt vor mir an Land - mit einem furchtbaren Geräusch! Ich folge ihr nicht weniger lautstark, werde aber wieder zurück gesogen, weil ich nicht schnell genug aus meinem Cockpit komme. Die Folgenden werden von den schon Angelandeten etwas Gelcoat-schonender in Empfang genommen. Während der gesamten Pause schwimmt eine Kegelrobbe dreißig Meter vor der Wasserkante Patrouille am Eingang zur Höhle.

In einiger Entfernung draußen befindet sich ein unter Wasser liegendes Riff, das zusammen mit dem Tidenstrom eine Serie von fünf bis sechs brechenden Wellen erzeugt, denen wir einen Besuch abstatten wollen. Als wir uns nähern, türmen sie sich gewaltig, aber ich finde sie trotzdem vergleichsweise harmlos. Ich vermute, dass liegt einfach daran, das ich Wellen dieser Art schon von der Nordsee her kenne. Direkt hinter dem Wellenriegel wenden wir, um uns von hinten auf die Kämme zu setzen und etwas zu surfen. Wegen des starken Tidenstromes muss man sich aber doch ziemlich anstrengen, um so einen Kamm zu erreichen, der eigentlich direkt vor einem liegt. Hier spüre ich, dass die ständige Anspannung doch ihren Tribut gefordert hat und gebe bald auf. Wir fahren noch mit dem Tidenstrom, bis wir South Stack passiert haben und beratschlagen, wie es weitergeht. Aled schlägt vor, ein zweites Mal durch die Brecherreihe zu gehen. Acht sind mit von der Partie, die anderen treten geführt von Lauren den Heimweg an.

Wir arbeiten uns wieder an die Stelle heran, an der wir vorhin so angestrengt paddeln mussten. Als wir ihr uns nähern, erkenne ich, dass es diesmal mehr als anstrengend werden wird. Ich paddle wie wild, aber wenn ich auf die Felsen nebenan blicke, ist kaum ein Vorankommen zu erkennen. Aled fährt scheinbar mühelos vorneweg, einzig eine junge Engländerin, die knapp vor mir fährt, macht mir Mut: solange sie nicht zurückfällt, gebe ich nicht auf! Ich fange auch langsam an, nicht mehr blindlings zu paddeln, sondern den Schwell besser zu nutzen, der immer wieder von der Felswand zurückläuft und einem Schwung geben kann. Als wir drei in ein ruhiges Kehrwasser einlaufen, ist vom Rest der Gruppe nichts zu sehen. Erst nach einiger Zeit kommen sie um die Ecke zentimetert, allesamt sichtlich beeindruckt von der Mühe, die sie diese nicht einmal hundert Meter gekostet haben.

Wir müssen noch einen langen Schlag gegen den Strom machen, bevor wir wieder auf die Brecherreihe zuhalten können. Sie türmen sich mittlerweile noch höher und erreichen nun locker drei Meter Höhe. Eine muss sich unbedingt direkt vor mir erbrechen, und ihr gesamter Schaum schlägt mir mit voller Wucht gegen die Brust. Ich habe mein Paddel zur Sicherheit parallel zum Boot gelegt, damit es mir nicht um den Bauch gewickelt wird.